Schwarzer Regen
er das merkwürdige Gefühl hatte, er sei nach langer Abwesenheit heimgekehrt.
»Wollen wir Monopoly spielen?«, fragte Max, nachdem er zwei große Stücke Kuchen verdrückt hatte.
»Herr Pauly hat sicher nicht die Zeit, um jetzt mit dir Monopoly zu spielen«, sagte seine Mutter.
|246| »Och, bitte, nur ganz kurz.«
Ihre Augen blitzten für einen Moment auf und offenbarten, dass sie bei all ihrer Sanftmütigkeit durchaus einen starken Willen hatte. »Nein, habe ich gesagt! Geh in dein Zimmer und spiel ein Videospiel!« Sie wandte sich an Lennard. »Ich versuche, den Jungen zu erziehen, aber allein ist es nicht immer ganz einfach.«
Ehe er sich selbst daran hindern konnte, fragte Lennard: »Was ist mit seinem Vater?«
Ihr Gesicht verdüsterte sich, doch sie schien die Frage nicht übelzunehmen. Sie vergewisserte sich mit einem Blick, dass die Tür zu Max’ Zimmer geschlossen war. »Es war ein dummer Ausrutscher. Ich war glücklich verheiratet, aber dann hatte ich auf der Geburtstagsparty einer Freundin zu viel getrunken und hab nicht aufgepasst. Mein Mann hat zuerst geglaubt, das Kind sei von ihm, doch als Max zwei Jahre alt war, hat ihm der Arzt bei einer Routineuntersuchung gesagt, dass er unfruchtbar ist. Da hat er mich verlassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann’s ihm nicht mal übelnehmen. Johannes ist ein guter Mann, aber er hat eben seine Prinzipien.«
»Tut mir leid, ich wollte nicht …«
»Schon gut. Ich bin lange darüber hinweg.« Sie blickte ihm direkt in die Augen. »Und Sie? Möchten Sie über Ihre Familie reden?«
Lennard schluckte. Wollte er das? Wollte er das ganze Desaster seines Lebens vor dieser Frau ausbreiten? Etwas in ihm drängte ihn, es zu tun. Er hatte noch nie mit jemandem darüber geredet – es war einfach niemand da gewesen. Zu seiner Mutter hatte er schon seit langem keinen Kontakt mehr, sein Vater war tot, Geschwister hatte er nicht, und Freundschaften gehörten nicht zu Lennards Repertoire. Er hatte sich nie daran gestört, ein Einzelgänger zu sein. Doch jetzt merkte er, dass sich in ihm ein enormer |247| Druck angestaut hatte, endlich jemandem seine Gefühle anzuvertrauen.
»Ich habe meine Familie zerstört«, sagte er.
Sie wartete.
»Ich habe einen Mann erschossen.«
Sie zuckte nicht zusammen, wandte sich nicht ab. Ihr Gesicht zeigte keine Regung. Ihre tiefbraunen Augen musterten ihn nur mit einer Intensität, die ihn gleichzeitig beunruhigte und bestärkte.
»Ich war Polizist. Wir waren hinter einem Kinderschänder her. Ich stellte ihn schließlich mit meinen Kollegen in seinem Schlafzimmer. Ein kleines Mädchen lag gefesselt auf seinem Bett. Er war vermögend, hätte sich die besten Anwälte leisten können. Die Opfer hätten im Gerichtssaal ihre Leiden erneut durchleben müssen. Am Ende wäre das Schwein nach ein paar Jahren wieder aus der Haft entlassen worden. Da hab ich ihn einfach erschossen.«
Keine Bestätigung kam von ihr, kein »das hätte ich auch gemacht«, wie er es damals so oft gehört hatte. Sie wollte einfach wissen, wie die Geschichte weiterging. Also erzählte Lennard es ihr.
»Ich habe ein mildes Urteil bekommen. Alle sagten, ich hätte im Stress die Nerven verloren. Aber so war es nicht. Ich wusste genau, was ich tat. Ich habe ihn hingerichtet. Statt meinen Job zu machen und das Schwein zu verhaften, habe ich selbst den Richter gespielt. Ich wurde unehrenhaft aus dem Dienst entlassen. Von diesem Tag an muss das Zusammenleben mit mir sehr schwer gewesen sein. Ein halbes Jahr später hat sich meine Frau von mir getrennt. Sie hat meinen Sohn mitgenommen, und ich ließ die beiden gehen. Ich … ich dachte, er hätte es besser, wenn er mich nicht mehr wiedersah, wenn er nur noch in seiner neuen Familie lebte. Aber … aber er hat …« Lennard konnte einen Moment nicht weitersprechen. Er atmete tief durch. |248| Es musste raus. »Er hat die ganze Zeit auf mich gewartet. Zehn Jahre lang. Und ich bin nicht gekommen, hab ihn nicht mal zum Geburtstag angerufen. Ich habe ihn im Stich gelassen!«
Einen Moment saßen sie nur stumm da. Es fühlte sich seltsam gut an, es ausgesprochen zu haben. Doch nun regte sich auch ein Gefühl der Scham in ihm. »Es … es tut mir leid … ich …«
Fabienne Berger sagte nichts, legte nur ihre Hand auf seine.
|249| 50.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, es waren keine Islamisten! Diese angeblichen Terroristen in Köln hatten mit dem Attentat auf Karlsruhe nicht das Geringste zu tun!« Hardy Wiesner lehnte
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