Schwarzer Regen
Junge«, begann sein Onkel mit sanfter Stimme, als rede er mit einem Sechsjährigen. »Die PDV …«
»Ich bin nicht dein Junge!«, schrie Leon.
»Nein, ich weiß. Aber ich bin nun mal für dich verantwortlich. Und du musst verstehen, dass ich nicht zulassen kann, dass du dich in die Fänge dieser Neonazis begibst!«
»Ach ja? Alle, die wütend sind über das, was in Karlsruhe geschehen ist, sind Neonazis? Wenn das so ist, dann bin ich eben auch einer!«
»Ich verstehe ja deinen Zorn, Leon. Aber …«
»Gar nichts verstehst du! Überhaupt nichts! Während meine Eltern verbrannt sind, habt ihr beide doch nur hier in Augsburg rumgesessen und Erdbeertee getrunken!«
»Sieh mal, in deinem Alter war ich auch zornig. Ich habe auch an Demonstrationen teilgenommen. Einmal bin ich sogar wegen Landfriedensbruch verhaftet worden, damals bei der Startbahn West. Wir haben gegen Leute gekämpft, denen Passagieraufkommen und Steuereinnahmen wichtiger waren als die Umwelt. Aber was da morgen in Ettlingen passieren soll, ist etwas ganz anderes! Merkst du denn nicht, dass die den Zorn der Opfer nur ausnutzen? Die manipulieren doch bloß deine Gefühle!«
»Vielleicht tun sie das. Aber ich habe wenigstens noch Gefühle! Du dagegen machst weiter mit deinem Heile-Welt-Scheiß. Helft den Entwicklungsländern, stoppt den Angriffskrieg gegen den Iran, rettet den Regenwald, ich kann es nicht mehr hören! Deutschland überweist Hunderte |265| von Millionen Entwicklungshilfe, und zum Dank zünden diese Arschlöcher eine Atombombe in unserem Land! Und ich soll das auch noch gut finden, oder was?«
»Hör mal, so ist es doch nicht. Was können denn die Leute in der Sahelzone dafür, dass irgendwelche Irren Karlsruhe in die Luft gesprengt haben?«
»Nichts. Aber warum zum Kuckuck sind dir die Leute in der Sahelzone wichtiger als die Leute in deinem eigenen Land?«
»Irgendwer muss diesen Leuten doch helfen! Dort herrschen unvorstellbare Armut und Bürgerkrieg und …«
»Unvorstellbar, ja? Ich sage dir, was unvorstellbar ist: Du bist auf einer Party, und plötzlich blitzt es, und alle außer dir sind tot! Das ist unvorstellbar!« Sosehr er sich bemühte, vor diesem Weichei von Onkel keine Schwäche zu zeigen, konnte er doch nicht verhindern, dass Tränen über seine Wangen liefen. »Mir ist egal, was in der Sahelzone passiert. Aber mir ist nicht egal, was hier vor unserer Haustür passiert. Und deshalb fahre ich morgen nach Ettlingen!«
Sein Onkel streckte die Hand aus, um ihn sanft zu berühren, zog sie dann aber zurück, als er Leons Blick bemerkte. »Mir ist auch nicht egal, was hier bei uns passiert«, sagte er mit seiner unerträglichen Nun-beruhige-dich-es-wird-alles-wieder-gut-Stimme. Wenn er nur wenigstens einmal wütend werden, ein einziges Mal brüllen würde! Aber der Bruder seiner Mutter würde wahrscheinlich noch Verständnis zeigen, wenn jemand vor seinen Augen seine Frau vergewaltigte. »Mir ist das ganz und gar nicht egal. Deshalb will ich ja nicht, dass du zu dieser PDV-Veranstaltung gehst.«
»Die PDV ist eine demokratische Partei. Wenn die anderen wegen Karlsruhe nichts machen, ist das deren Problem.«
|266| »Demokratisch? Dass ich nicht lache! Wenn es nach denen ginge, würden die erst mal das Grundgesetz ändern, freie Wahlen abschaffen und aus Deutschland einen Polizeistaat machen!«
»Vielleicht wäre das nicht mal schlecht«, sagte Leon. »Wenn die Polizei besser aufgepasst hätte, wäre das in Karlsruhe jedenfalls nicht passiert! Meine Eltern wären noch am Leben, und ich müsste nicht bei so einem bekifften Arschloch wie dir leben!«
Immer noch wurde sein Onkel nicht wütend. »Leon, so darfst du nicht denken!«
»Ach nein? Wer will mir das denn verbieten? Du etwa?«
»Ich will dir gar nichts verbieten, jedenfalls keine Gedanken. Ich möchte nur, dass du meinen Standpunkt verstehst. Deine Reaktion ist ganz natürlich. Aber du musst lernen, mit der Realität zu leben. Deine Eltern sind tot, meine Schwester ist tot. Niemand kann sie uns wieder zurückbringen!«
»Was du nicht sagst!«
»Zynismus hilft dir auch nicht weiter. Das Einzige, was hilft, ist Toleranz. Wir müssen ein Zeichen setzen gegen den Hass, der dieses Land befallen hat! Deswegen bitte ich dich noch einmal: Fahr dort morgen nicht hin!«
»Ich mach dir einen Vorschlag: Du setzt hier ein Zeichen für Frieden, Freude und Eierkuchen, und ich setze morgen ein Zeichen für unser Land! Du kannst gern noch drei Stunden weiter auf mich
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