Schwarzer Regen
seiner Mutter – ein grober Kerl, der den kleinen Lennard stets spüren ließ, dass er ihn für ein überflüssiges Ärgernis hielt – hatte ihm in einem seltenen Anflug von Großzügigkeit gezeigt, wie er es auf den Himmel richten und damit Sterne beobachten konnte. Doch Sterne waren langweilig – sie taten nichts, sie bewegten sich nicht, sie sahen nicht mal irgendwie interessant aus. Es waren nur Lichtpunkte, die man ebenso gut mit bloßem Auge betrachten konnte.
Umso interessanter war es aber, was man mit dem Teleskop in seiner Nachbarschaft entdecken konnte. Also hatte er sein vermeintliches Hobby Astronomie zum Schein weiterbetrieben. Er hatte rasch gemerkt, dass das billige Teleskop zwar eine enorme Vergrößerung erreichte, dabei aber sehr unscharf und lichtschwach war. Mit einem gewöhnlichen Fernglas konnte man wesentlich mehr sehen, sowohl am Himmel als auch am Boden. Nach und nach hatte er seine optische Ausrüstung verbessert, wobei er gelernt hatte, sich aus Linsen und Blechrohren eigene Teleskope zu bauen, die deutlich günstiger waren als die fertig zu kaufenden. |271| Damit seine Mutter nicht merkte, was der eigentliche Zweck dieser Aktivitäten war, hatte er die Namen von Sternbildern, Planeten und Kometen, Sternen und Galaxien auswendig gelernt und irgendwann sogar ein wenig von der Faszination gespürt, die echte Amateur-Astronomen beim Betrachten des Nachthimmels befiel.
Doch sein wahres Interesse hatte immer dem Leben in seiner Nähe gegolten. Er hatte sich einen Spaß daraus gemacht, über die Schulter der Menschen im Straßencafé drei Häuser weiter deren Zeitung mitzulesen, hatte die Sorgenfalten der alten Frau auf der anderen Straßenseite untersucht, die immer so sehnsuchtsvoll aus dem Fenster schaute, hatte Tauben bei der Paarung und bei der Aufzucht ihrer Jungen studiert. Einmal hatte er einen Taschendiebstahl beobachtet, so nah, als habe er direkt daneben gestanden. Es war ein junges Mädchen in schäbiger Kleidung gewesen, das einem eleganten Herrn im Anzug die Brieftasche geklaut hatte.
Natürlich hätte er es niemals gewagt, mit einem Fernglas in der Schule zu erscheinen. Er wusste längst, dass die Menschen nicht gern heimlich beobachtet wurden. Es hatte ihm gereicht, Eva mit seinen bloßen, guttrainierten Augen zu betrachten, jedes Detail ihrer Bewegungen in seinem Gedächtnis zu speichern – die Art, wie sie mit ihren schlanken Fingern durch das lange Haar strich, wenn sie gedankenverloren oder nervös war, das Aufblitzen ihrer grünen Augen, wenn sie sich ärgerte, das leichte Schürzen der Lippen, wenn sie über eine komplizierte Matheaufgabe nachdachte.
Eines Samstagabends, es war Oktober, nahm er sein Fernglas und verbarg sich im Gestrüpp des Parks gegenüber dem Reihenhaus, in dem Eva wohnte. Er wartete geduldig fast die halbe Nacht, bis Eva und ihr Freund von einem Discobesuch nach Hause kamen. Sie verabschiedete ihn mit einem Kuss an der Haustür. Dann ging sie in ihr |272| Zimmer und zog sich aus. Lennard konnte nur ihren verzerrten Schatten auf der zugezogenen Gardine erkennen, doch seine Phantasie zeigte ihm jedes Detail von Evas schlankem Körper.
Er war so vertieft in Evas Schattenspiel, dass er alles andere um sich herum vergaß. So traf ihn die Stimme völlig überraschend: »Du perverser Spanner!«
Er fuhr herum. Vor ihm stand Evas Freund.
Lennard bekam keine Chance, irgendetwas zu erklären. Es hätte wohl auch wenig genützt. Er bezog die Tracht Prügel seines Lebens.
Als er sich schließlich mit gebrochener Nase nach Hause schleppte, weigerte er sich, seiner Mutter zu erzählen, wer ihn so zugerichtet hatte. Er wusste natürlich, dass ihr Freund im Recht gewesen war und Eva nicht das Geringste dafür konnte, dennoch nahm er es ihr persönlich übel, dass er verdroschen worden war. Er hatte sie doch bloß bewundert. Er nahm sich vor, sich nie wieder so überraschen und verprügeln zu lassen, und lernte, sich gegen deutlich stärkere Gegner zu verteidigen.
Lennard musste lächeln. Wenn er damals geahnt hätte, dass er eines Tages mit versteckten Kameras beobachten würde, wie Eva ihren Mann betrog! Es war beinahe eine späte Wiedergutmachung der Schmach, die er erlitten hatte.
Er beobachtete, wie die beiden sich küssten, wie Pawlow Evas Bluse abstreifte, ihre Brüste umfasste, wie sie seine Leidenschaft entfachte. Er wandte den Blick ab und dachte an Fabienne. Wie gern hätte er sie jetzt an sich gedrückt, so wie Pawlow es mit Eva tat!
Er seufzte
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