Schwarzer Regen
Brücke kam, fand ich über
zweitausend Flüchtlinge vor, die auf der grasbewachsenen Böschung unterhalb der
Brücke hockten. Nur ein paar junge Leute versuchten, die Brücke zu überqueren.
Sie war bestimmt über dreißig Meter hoch, und ein Blick auf den Fluß unten genügte,
um weiche Knie zu bekommen. Und doch konnte man nur auf diesem Weg die andere
Seite erreichen. Die Leute, die hier herumsaßen und fast alle verwundet waren,
schienen in einem solchen Zustand der Apathie zu sein, daß sie nicht einmal den
Willen hatten hinüberzugelangen. Einige saßen einfach schweigend da und
starrten in den Himmel. Die meisten aber hatten ihren Blick vom Wolkenpilz
abgewandt. Viele Verwundete lagen einfach auf dem Rücken auf der Böschung. Nur
eine Frau machte eine Ausnahme, sie hatte die Arme nach der Wolke ausgestreckt
und schrie mit schriller Stimme: „He, du Ungeheuer von Wolke! Mach, daß du
wegkommst. Wir sind Zivilisten! Hörst du, verschwinde!“ Merkwürdigerweise
versuchte sie trotz ihrer Lebhaftigkeit nicht, über die Brücke zu gehen.
Dann hielt ich es nicht länger aus, so
unentschlossen zu warten, und nahm mir vor: Du mußt über die Brücke! Ich folgte
einem jungen Mann, der an der Schulter blutete, und vermied, so gut ich konnte,
auf das Wasser unten zu sehen. Der größte Teil des Weges war durch den
Güterzug, der auf der Seite lag, versperrt. Nur auf allen vieren konnte man
daran entlangkriechen. Etwa in der Mitte des Zuges sah ich unten an einer
seichten Stelle des Flusses Haufen von Zwiebeln liegen, die ausgekippt und
heruntergefallen waren.
Die Flüchtlinge, die die Brücke überquert
hatten, zogen in einem langen Gänsemarsch den Berg von Futabano-Sato hinauf,
als würden sie unentwegt hinaufgesogen. An zwei, drei Stellen weiter oben auf
den Hügeln waren schon Waldbrände sichtbar. Anscheinend können nur Menschen,
die in den Bergen wohnen, den ganzen Schrecken von Bränden zwischen den Hügeln
richtig einschätzen. Wie sie da in Trauben einem Waldbrand in den Bergen
zustrebten, erinnerten sie mich schrecklich an Motten, die sich nachts selbst
in eine Lampe stürzen. Ich kannte die furchtbaren Gefahren eines solchen
Feuers, seit ich es als Kind einmal miterlebt hatte. Ich dachte auch an die
vielen Opfer jenes Waldbrandes damals. Zu einer Gruppe von Flüchtlingen sagte
ich, als sie an mir vorbeigingen: „Bergbrände sind gefährlich. Sie sehen klein
aus, besonders bei Tage, aber in Wirklichkeit sind sie gewaltig und erfassen
riesige Flächen. Die Flammen prasseln talwärts, und rotglühende Steine und
Felsbrocken rollen herab.“ Aber sie gingen den Berg hinauf, ohne auch nur im geringsten darauf zu achten.
Schließlich kam ich an der Ecke des
West-Exerzierplatzes heraus. Soweit das Auge reichte, sah man nichts als
Flüchtlinge, das ganze riesige Gelände war überflutet von einer Menschenwoge.
Doch auch hier strömten die fliehenden Scharen den Bergen zu. Ich hatte von
Flutwellen gehört, die in lehmigen Wirbeln den Strand hinauflaufen und immer
weiter nach dem höher gelegenen Land greifen. Da ich die Absicht hatte, zuerst
zum Hauptbahnhof von Hiroshima zu gelangen, ging ich am Rande des
Exerzierplatzes entlang und kreuzte dabei den Menschenstrom, der sich den
Bergen zuwälzte. Muß ich beschreiben, wie völlig verändert die Hunderte, ja
Tausende von Menschen aussahen, denen ich auf dem Weg begegnete? Es drängt mich
— mag es auch unnötig erscheinen — , hier die
Erinnerungen an einige Bilder niederzuschreiben, wie sie mir gerade wieder
einfallen:
Die zahllosen Menschen, die mit schwärzlichem,
getrocknetem Blut verklebt waren, das ihnen vom Gesicht auf die Schultern geflossen
war, den Rücken hinunter oder über die Brust bis zum Bauch. Einige, die noch
bluteten, aber gar keine Kraft zu haben schienen, etwas dagegen zu tun.
Leute, die ziellos daherstolperten, mit
schlenkernd herabhängenden Armen, wie sie gerade von der Menge getrieben
wurden.
Menschen, die mit geschlossenen Augen gingen
und, von der Menge gestoßen, hin- und herschwankten.
Eine Frau, die ein Kind an der Hand führte, die
Hand mit einem Aufschrei abschüttelte und davonrannte, als sie bemerkte, daß es
nicht ihr Kind war; und das Kind — ein Junge von sechs oder sieben Jahren — ,
das ihr jämmerlich weinend hinterherlief.
Ein Vater, der sein Kind an der Hand geführt und
es dann im Gedränge verloren hatte, der sich durch die Menge schob und immer
wieder den Namen des Kindes rief, bis schließlich jemand brutal
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