Schwarzer Regen
mir doch so vor, als ob etwas nicht stimmte, und ich ging in
die Eingangshalle, um nach den anderen zu sehen. Drinnen fiel mir eine Schale
auf, die in einem kleinen Fenster stand und als Lampe diente, gefüllt mit
Speiseöl und einem Stück Binde als Docht. Die Schale selbst mußte wohl aus
einem Safe stammen, denn es war ein prächtiges Stück aus San-ts’ai-Keramik.
„Shigematsu!“ sagte jemand. „Tut mir leid, daß
du so lange warten mußtest.“
Ich drehte mich um. Der Mann auf der Bahre, die
Rikuo und Masaru trugen, lag im Sterben, er konnte nicht einmal mehr stöhnen.
Dunkle, schwärzliche Flecken zeichneten sich auf den Bandagen an seinen Händen
ab. Das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit geschwollen und purpurfarben. An
den zerschlissenen Resten seines Hemds steckte, mit einer Sicherheitsnadel
befestigt, eine Namenskarte. Darauf stand: „Chuzo Hata, Mitglied der Kojin-Brigade,
Gemeinde Kobatake, Präfektur Hiroshima“.
In meiner Kindheit hatte mir der Vater dieses
Chuzo gezeigt, wie man Aale mit Ködern fängt, und mich, der ich danach strebte,
ein echter Angler zu werden, auch mit dem Genuß von Bambusschößlingen bekannt
gemacht, die man in einem Hain ausgrub und in der Glut eines Feuers buk, das
man im ausgetrockneten Teil des Flußbetts gemacht hatte. Man buk sie mit der
Blattscheide, schälte sie dann und aß sie heiß, mit Bohnenmus bestrichen, das man sich vom nächsten Hof erbettelt hatte.
Ein widerlicher Fischgestank ging von dem auf
der Bahre liegenden Chuzo aus. Das kam entweder von eiternden Wunden oder vom
Fieber. Es war jedenfalls äußerst unangenehm. Ich erbot mich, das eine Ende der Bahre Rikuo abzunehmen, aber er lehnte es ab.
„Mach keinen Unsinn“, sagte er. „Überlaß es dem
Bergungstrupp, die Bahre zu tragen.“
Immer wieder rief Hauptfeldwebel Tamotsu, der
vor der Bahre her ging, durch das Megaphon. „Ist hier noch jemand von der
Kojin-Brigade? Achtung, Achtung. Ist jemand aus Takafuta hier?“ Ich ging neben
ihm, um dem Geruch, der von der Bahre kam, zu
entgehen. Der Himmel war erschreckend blau.
Ein Arzt, Dr. Norioka, erzählte mir Tamotsu,
hatte Chuzo unter all den Patienten auf der Station herausgefunden. Es gab so viele
Verwundete, daß nicht alle in der eigentlichen Station untergebracht werden
konnten. Deshalb lagen sie auch auf dem Korridor, und Leute, die Kranke pflegen
oder Vermißte suchen wollten, mußten sich ihren Weg zwischen ihnen hindurch
bahnen. Das schlimmste war aber, daß das Fieber außerordentlich ansteckend
wirkte. Manchmal kam es vor, daß ein Gesunder, der einen Patienten versorgte,
eher starb als der Patient. Es geschah immer wieder, wo man nur hinsah. Doch
trotz des unbeschreiblichen Chaos hatte Dr. Norioka ihnen Chuzo herausgesucht.
Dr. Norioka, Führer eines Bergungstrupps vom Lazarett des Nachrichtenkorps in
Osaka, war mit seinem Trupp, der Rucksäcke voll Medikamente und Verbandszeug
mitbrachte, erst am Tag vorher hier im Lazarett angekommen. Zwei Tage davor, am
Achten, hatten Uniformierte, die plötzlich auftauchten, kurzerhand alle im
Lazarett vorhandenen Medikamente und das Verbandszeug beschlagnahmt. Daher war
der Bergungstrupp — so drückte es eine Schwester aus — wie ein Erlösung bringender Buddha in der Hölle erschienen.
Als wir die Notunterkunft unseres Bergungstrupps
erreichten, war Chuzo auf der Bahre bereits gestorben.
„Er ist tot“, sagte Tamotsu, als sie ihn auf der
Veranda im Garten absetzten, und machte eine Ehrenbezeigung als Zeichen seiner
Hochachtung vor dem Dahingegangenen. Masaru brachte ein Blatt von der
Spitzblume, die am Zierbassin wuchs, und legte es neben den Kopf des Toten,
dann stellte er sich zu Rikuo, sie legten die Hände aneinander und beugten sich
kurz zu einem stillen Gebet. Ich rezitierte die „Schrift über die
Vergänglichkeit“. Sobald ich damit fertig war, fragte Rikuo: „Sollen wir ihn
dann einäschern? Ich komme mir Chuzo gegenüber richtig schäbig vor, aber es ist
wohl unabänderlich.“ Er und Masaru nahmen die Bahre wieder auf. Ein Stück
freies Feld neben der Eisenbahn diente als Krematorium für die Verstorbenen.
Die Notunterkunft des Bergungstrupps befand sich
in einem Privathaus am Ost-Exerzierplatz in der Nähe des Futaba-Hügels. An
Wochentagen verließ der Haushaltsvorstand, ein Lehrer, früh am Morgen die
Wohnung, an Sonntagen ging er aus, um irgendwo freiwillig Kriegsdienst zu
leisten. Da er tagsüber nie zu Hause war, bekamen ihn die Leute vom
Bergungstrupp kaum zu
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