Schwarzer Schmetterling
keine Telefonate mit Mama oder Papa.
Diane hätte sich nicht einmischen sollen, es ging sie nichts an, aber eines Nachts musste sie diesem Mann einfach folgen, als er das Zimmer nebenan verließ. Auf diese Weise hatte sie herausgefunden, dass er in einem hübschen kleinen Einfamilienhaus wohnte; hinter einem großen Fenster hatte sie auch eine Frau gesehen. Sie hätte es dabei belassen können. Aber sie hatte ihn weiter beschattet, wenn sie die Zeit dazu hatte. Im Laufe der Zeit hatte sie etliche Informationen über ihn zusammengetragen: Er leitete einen Supermarkt, hatte zwei – fünf und sieben Jahre alte – Kinder, er wettete bei Pferderennen. Seine eigenen Einkäufe erledigte er diskret bei Globus, einer konkurrierenden Ladenkette. Schließlich hatte sie herausgefunden, dass er ihre Nachbarin kennengelernt hatte, weil sie zur Finanzierung ihres Studiums in seinem Supermarkt arbeitete, und dass er sie geschwängert hatte. Daher die Einschüchterungen, die Drohungen. Er wollte, dass sie das Kind abtrieb. Außerdem hatte er noch eine andere Geliebte: eine viel zu stark geschminkte dreißigjährige Kassiererin, die wütend Kaugummi kaute, während sie die Kunden verächtlich ansah.
»I’m in love with the queen of the supermarket«,
wie Bruce Springsteen sang. Eines Abends hatte Diane auf ihrem Computer einen anonymen Brief geschrieben, den sie unter der Tür ihrer Nachbarin durchgeschoben hatte. Der Brief bestand nur aus einem Satz: »Er wird seine Frau niemals verlassen.« Einen Monat später hatte sie erfahren, dass ihre Nachbarin in der zwölften Woche abgetrieben hatte, nur wenige Tage bevor die gesetzliche Frist ablief.
Wieder einmal fragte sie sich, ob dieses Bedürfnis, sich in das Leben anderer Menschen einzumischen, nicht darauf zurückzuführen war, dass sie in einer Familie aufgewachsen war, wo das Unausgesprochene, das Schweigen und die Geheimniskrämerei sehr viel normaler waren als die Momente der Gemeinsamkeit. Sie fragte sich auch, ob ihr Vater, der strenge Calvinist, ihre Mutter schon einmal betrogen hatte. Sie wusste ganz genau, dass es umgekehrt schon vorgekommen war, dass einige der diskreten Männer, die ihre Mutter besuchten, ihre allzu lebhafte Phantasie missbrauchten und ihre ewig enttäuschten Hoffnungen befeuerten.
Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Was ging hier vor? Als sie versuchte, die Informationen, über die sie verfügte, miteinander zu verknüpfen, spürte sie ein wachsendes Unbehagen.
Am schlimmsten war diese Geschichte in Saint-Martin … Ein entsetzliches Verbrechen … Der Umstand, dass es auf die eine oder andere Weise mit dem Institut in Verbindung stand, steigerte noch das Unbehagen, das sie von Anfang an verspürt hatte. Wie dumm, dass sie niemanden hatte, dem sie sich anvertrauen konnte, jemanden, mit dem sie ihre Zweifel hätte teilen können. Ihre beste Freundin … oder Pierre …
Sie dachte wieder an diesen Polizisten, von dem sie bis jetzt nur die Stimme und den Tonfall kannte. Was sie bei ihm wahrnahm? Stress. Anspannung. Sorge. Aber gleichzeitig Kraft und Entschlossenheit.
Und auch eine lebhafte Neugier …
Ein selbstsicherer Verstandesmensch … Wie in einem Spiegel erkannte sie sich in diesem Polizisten wieder.
»Darf ich bekannt machen: Elisabeth Ferney, unsere Pflegedienstleiterin.«
Servaz sah eine große Frau herankommen, deren Absätze auf den Steinplatten des Flurs widerhallten. Ihre Haare waren nicht so lang wie die von Charlène Espérandieu, aber sie fielen trotzdem frei auf ihre Schultern herab. Sie begrüßte sie mit einem Kopfnicken, ohne ein Wort, auch ohne ein Lächeln, und ihr Blick verweilte etwas länger als nötig auf Irène Ziegler.
Servaz sah, dass die junge Gendarmin die Augen niederschlug.
Elisabeth Ferney hatte eine autoritäre, herrische Ausstrahlung. Servaz schätzte sie auf etwa vierzig, obwohl sie genauso gut erst fünfunddreißig oder aber auch schon fünfzig sein konnte, denn ihr weiter Kittel und ihre strenge Miene erlaubten keine genaueren Aussagen. Er spürte viel Energie und einen eisernen Willen.
Und wenn der zweite Mann eine Frau wäre?,
fragte er sich plötzlich. Dann sagte er sich, dass diese Frage der Beweis für seine Ratlosigkeit war: Wenn alle verdächtig waren, war niemand mehr verdächtig. Sie hatten keinen brauchbaren Ermittlungsansatz.
»Lisa ist die Seele dieser Einrichtung«, sagte Xavier. »Sie kennt sich hier besser aus als irgendjemand sonst – und sie weiß über alle
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