Schwarzer Schmetterling
Kamin.
»Ich mach dir einen Vorschlag. Jedes Mal, wenn du in Saint-Martin übernachten und zu Abend essen musst, findest du hier einen gedeckten Tisch. So brauchst du nicht das schlechte Hotelessen in dich hineinzustopfen oder mit leerem Magen ins Bett zu gehen.«
Servaz lächelte.
»Wenn es immer so reichhaltig ist, werde ich bald nicht mehr ermitteln können.«
Gabriel Saint-Cyr lachte herzlich und vertrieb so die Anspannung, die seine Geschichte hatte aufkommen lassen.
»Sagen wir, dass es sich um ein Einstandsessen handelt. Ich wollte dich mit meinen kulinarischen Talenten beeindrucken. Die nächsten werden bescheidener ausfallen. Versprochen. Man muss den Commandanten schließlich in Form halten.«
»Dann nehme ich die Einladung gerne an.«
»Und dann«, fuhr der Richter mit einem Blinzeln fort, »können wir auch über die Fortschritte bei deinen Ermittlungen diskutieren. Natürlich im Rahmen dessen, was du mir erzählen darfst. Sagen wir, aus einer eher theoretischen als praktischen Perspektive. Es ist immer eine gute Sache, wenn man seine eigenen Hypothesen und seine Schlussfolgerungen vor einem Dritten ausbreiten und begründen muss.«
Servaz wusste, dass der Richter recht hatte. Trotzdem hatte er nicht die Absicht, ihm alles zu sagen. Aber er wusste, dass ihm Saint-Cyr mit seinem scharfen Verstand und seiner professionellen Logik nützlich sein konnte. Und wenn sein aktueller Fall mit dem der Selbstmörder zusammenhing, könnte er sehr viel von dem Ex-Richter erfahren.
Zum Abschied drückten sie sich herzlich die Hand, und Servaz ging hinaus in die Nacht. Auf der kleinen Brücke merkte er, dass es wieder zu schneien begonnen hatte. Er atmete die Nachtluft tief ein, um einen klaren Kopf zu bekommen, und die Flocken benetzten seine Wangen. Er gelangte gerade zu seinem Auto, als in seiner Tasche das Handy vibrierte.
»Es gibt Neuigkeiten«, sagte Ziegler.
Servaz verkrampfte sich. Er betrachtete die Mühle auf der anderen Seite des Bachs. Hinter einem Fenster ging die Silhouette des Richters vorbei – er trug Teller und Bestecke ab. Dicht fielen über der dunklen Mühle die Schneeflocken.
»Wir haben am Tatort Blut von einer anderen Person als Grimm gefunden. Die DNA ist gerade identifiziert worden.«
Servaz hatte das Gefühl, dass sich unter seinen Füßen ein Abgrund auftat. Er schluckte seinen Speichel hinunter.
Er wusste, was sie gleich sagen würde.
»Es ist die von Hirtmann.«
Es war kurz nach Mitternacht, als in der Klinik das leise Quietschen einer Tür zu hören war. Diane schlief nicht. Sie lag auf ihrem Bett, starrte mit offenen Augen in die Finsternis und wartete – noch immer angekleidet. Sie wandte den Kopf um und sah den Lichtstreifen unter ihrer Tür. Dann hörte sie die leisen Schritte.
Sie stand auf.
Warum tat sie das?
Nichts zwang sie dazu. Sie machte die Tür einen Spaltbreit auf.
Der Gang war wieder dunkel – aber die Treppe am Ende des Gangs war beleuchtet. Sie warf einen Blick zur anderen Seite und trat hinaus. Sie trug Jeans, einen Pullover und Hausschuhe. Wie würde sie erklären, was sie um diese Uhrzeit auf den Gängen tat, wenn sie unverhofft jemandem gegenüberstehen sollte? Sie kam an die Treppe. Sie lauschte. Unten das Echo flüchtiger Schritte. Sie hörten weder im dritten noch im zweiten Stock auf. Sondern im ersten Geschoss. Diane rührte sich nicht mehr. Sie wagte es nicht, sich über das Geländer zu beugen.
Ein Klicken.
Die Person, der sie folgte, hatte gerade den Zugangscode in das Tastenfeld neben der Sicherheitsschleuse eingegeben. Eine elektronische Sicherung pro Etage. Bis auf die letzte, wo sich die Schlafräume des Personals befanden. Sie hörte die Tür im ersten Stock summen – sie ging auf und wieder zu.
Tat sie das hier gerade wirklich? An ihrem neuen Arbeitsplatz nachts jemandem nachschleichen?
Sie stieg ihrerseits die Treppen hinunter bis zur Sicherheitstür im ersten Stock. Sie zögerte, zählte bis zehn und wollte gerade den Code eingeben, als ein Gedanke sie zurückhielt.
Die Kameras …
Sämtliche Bereiche, in denen sich die Patienten bewegten und schliefen, wurden von Überwachungskameras kontrolliert. Sie waren an allen strategischen Stellen montiert – im Erdgeschoss ebenso wie im ersten, zweiten und dritten Stock. Nur in den Dienstbotenaufgängen, die für die Insassen unerreichbar waren, sowie im vierten Stock, wo sich die Schlafräume des Personals befanden, gab es keine Kameras. Überall sonst spähten sie jeden
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