Schwarzer Schmetterling
gekommen. Einer der Insassen trug eine schwarze Strumpfmaske. Servaz konnte nur seine Augen und seinen Mund erkennen. Der andere hatte keine Kopfbedeckung und trug eine Brille. Beide starrten ihn durch die Scheibe und den Nebel an. Der eine streng, wie es ihm schien. Der andere …
… der andere hatte Angst …
Im Bruchteil einer Sekunde begriff Servaz – und er begriff die Situation in ihrem ganzen Grauen.
Perrault!
Der große, schlanke Typ auf dem Foto, mit struppigem Haar und Brille.
Servaz spürte, wie sein Herz pochte. Die Kabine bewegte sich wie in einem Traum, mit einer mittlerweile erschreckenden Geschwindigkeit. Weniger als zwanzig Meter. Sie würde die seine in zwei Sekunden kreuzen. Noch ein Detail weckte seine Aufmerksamkeit: Auf der von ihm abgewandten Seite der anderen Kabine fehlte eine Scheibe …
Perrault sah Servaz mit weit aufgerissenem Mund und schreckgeweiteten Augen an. Er schrie. Servaz konnte das Geschrei selbst durch die Scheiben hören – trotz des Windes, des Lärms von den Rollen und den Seilen. Noch nie hatte er in einem Gesicht solches Entsetzen gesehen. Als würde es im nächsten Moment Risse bekommen und bersten.
Servaz schluckte unwillkürlich. Als sich die beiden Kabinen kreuzten und dann wieder schnell voneinander entfernten, erkannte er plötzlich alle Details: Um Perraults Hals war ein Seil gewickelt, das durch das scheibenlose Fenster reichte – auf der Außenseite lief die Schnur um eine Art Haken, der vielleicht eigentlich dazu diente, Verletzte aus einer stehenden Kabine zum Boden abzuseilen, durchfuhr es Servaz. Das andere Ende des Seils hielt der maskierte Mann fest. Servaz versuchte, seine Augen zu sehen. Aber als sich die beiden Kabinen kreuzten, hatte sich der Mann hinter sein Opfer geworfen. Ein Gedanke schoss Servaz durch den Kopf:
Ich kenne ihn! Er hat Angst, dass ich ihn erkenne, obwohl er maskiert ist!
Verzweifelt tippte er auf seinem Handy herum. »Kein Netz!« … Panisch sah er sich nach einer Notbremse um, einem Notruf, irgendetwas … Nichts! Verdammte Scheiße! Man konnte in diesen Kabinen, die sich mit einer Geschwindigkeit von fünf Metern pro Sekunde fortbewegten, einfach verrecken! Servaz drehte sich zu der Kabine hin, die allmählich davonfuhr. Zum letzten Mal kreuzte sein Blick den entsetzten Blick Perraults. Hätte er eine Pistole gehabt, hätte er wenigstens … Was? Was hätte er gemacht? Ohnehin war er ein hoffnungslos schlechter Schütze. Bei den Tests, die einmal pro Jahr stattfanden, rief die unglaubliche Mittelmäßigkeit seiner Leistungen jedes Mal das sprachlose Kopfschütteln seines Ausbilders hervor. Er sah, wie die Kabine mit den beiden Männern mit dem Nebel verschmolz.
Ein nervöses Lächeln schnürte ihm die Luft ab. Dann wollte er schreien.
Vor Wut schlug er heftig gegen eine der Scheiben. Die folgenden Minuten gehörten zu den längsten seines Lebens. Es würde noch fünf Minuten dauern – fünf endlose Minuten zwischen den gespenstisch vorüberziehenden Tannen, die im Nebel in Reih und Glied angetreten waren wie Infanteristen – bis die Bergstation auftauchen würde. Ein gedrungenes kleines Gebäude, das wie die Talstation auf mächtigen Betonpfeilern ruhte. Dahinter lagen menschenleere Skipisten, stillstehende Schlepplifte und Gebäude, die in Nebel gehüllt waren. Auf der Plattform stand ein Mann, der ihn zu erwarten schien. Sobald die Tür aufging, sprang Servaz aus der Kabine. Er wäre beinahe auf den Betonboden gefallen. Er stürzte zu dem Mann in Uniform, seinen Dienstausweis in der Hand:
»Halten Sie alles an! Sofort! Blockieren Sie die Kabinen!«
Der Angestellte warf ihm unter seiner Mütze einen verdutzten Blick zu.
»Was?«
»Können Sie die Seilbahn anhalten – ja oder nein?«
Der Wind heulte. Servaz musste noch lauter brüllen. Seine Wut und seine Ungeduld schienen den Mann zu beeindrucken.
»Ja, aber …«
»Dann halten Sie alles an! Und rufen Sie unten an! Haben Sie ein Telefon?«
»Ja, natürlich.«
» HALTEN SIE ALLES AN ! SOFORT ! UND GEBEN SIE MIR DAS TELEFON ! SCHNELL !«
Der Angestellte stürzte ins Innere. Er sprach hektisch in ein Mikrophon, warf Servaz einen bangen Blick zu und legte dann einen Schalthebel um. Mit einem letzten Quietschen blieben die Kabinen stehen. Im Nachhinein merkte Servaz erst, was für ein Lärm zuvor auf der Plattform geherrscht hatte. Er nahm das Telefon entgegen und wählte die Nummer der Gendarmerie. Der diensthabende Beamte meldete
Weitere Kostenlose Bücher