Schwarzer Schmetterling
Gesicht gelacht.
Sie wusste, dass die Akten der Station A digitalisiert waren. Seit gestern hatte sie aber acht andere Patienten, und Xavier hatte beschlossen, sie sollte mit ihnen erst mal »Erfahrungen sammeln«. Offensichtlich waren sie nicht so wichtig, dass sich jemand die Mühe gemacht hätte, die in ihren Akten enthaltenen Daten digital zu erfassen. Sie ging in einen der Gänge hinein und begann, die Einbände zu prüfen. Sie versuchte dahinterzukommen, nach welchem System die Akten geordnet waren. Aus Erfahrung wusste sie, dass dazu nicht immer die unmittelbar einleuchtendste Methode gewählt wurde. Manche Archivare, Bibliothekare oder auch Entwickler von Anwendungsprogrammen dachten ziemlich kompliziert.
Mit Erleichterung stellte sie fest, dass dieser Mitarbeiter hinreichend logisch dachte, um alles alphabetisch zu ordnen. Sie nahm die entsprechenden Ordner an sich und setzte sich an den kleinen Lesetisch. Als sie in dem großen, stillen Raum Platz nahm, fern des hektischen Treibens, das in einigen Klinikbereichen herrschte, fiel ihr plötzlich wieder ein, was sich vergangene Nacht im Kellergeschoss ereignet hatte, und eine große Kälte überfiel sie. Seit sie am Morgen erwacht war, sah sie immer wieder die düsteren Gänge vor sich, erinnerte sich an den muffigen Kellergeruch und die klamme Kälte und durchlebte noch einmal den Moment, als sie plötzlich von völliger Finsternis umfangen war.
Wer schlich sich nachts zur Station A? Wer war der schreiende und schluchzende Mann, den sie in der Ferienkolonie gehört hatte? Wer war in die Verbrechen verwickelt, die in Saint-Martin geschahen? Allzu viele Fragen, die regelmäßig wie die Gezeiten auf ihr fiebrig erregtes Gehirn einstürzten. Und sie brannte darauf, Antworten zu finden …
Sie schlug die erste Akte auf. Die Krankengeschichte jedes Patienten wurde ausführlich dokumentiert, von den ersten Manifestationen seiner Erkrankung und den ersten Diagnosen bis zu den verschiedenen Klinikaufenthalten vor der Aufnahme ins Institut, die medikamentöse Therapie, eventuelle unerwünschte Nebenwirkungen … Besonders hervorgehoben wurden die Gefährlichkeit und angezeigte Vorsichtsmaßnahmen, was Diane – sofern sie es vergessen haben sollte – daran erinnerte, dass es in dieser Einrichtung keine Unschuldslämmer gab.
Sie machte einige Notizen auf ihrem Block und setzte die Lektüre fort. Nun kamen die Therapien im eigentlichen Sinne … Diane stellte ohne große Überraschung fest, dass Neuroleptika und Beruhigungsmittel in sehr hoher Dosierung verabreicht wurden. Einer Dosierung, die weit über den empfohlenen Richtwerten lag. Das bestätigte die Aussagen von Alex.
Eine Art pharmazeutisches Hiroshima,
dachte sie schaudernd. Die Vorstellung, ihr eigenes Gehirn würde von diesen Substanzen bombardiert, war ihr unerträglich … Sie kannte die schrecklichen Nebenwirkungen dieser Medikamente … Allein der Gedanke jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Jede Akte hatte einen Anhang, in dem die Medikation genau dokumentiert war: die Dosen, die Einnahmezeiten, Umstellungen der Medikamente, Auslieferung der Medikamente an die jeweilige Station … Jedes Mal, wenn die Station, in der der Patient behandelt wurde, eine neue Medikamentenlieferung aus der Klinikapotheke erhielt, wurde der Lieferschein von dem zuständigen Stationspfleger unterzeichnet und vom Verwalter der Apotheke gegengezeichnet.
Neuroleptika, Schlaftabletten, Angstlöser … aber keine Psychotherapien – zumindest nicht bis zu ihrer Ankunft …
bum-bum-bum-bum …
Sie sah vor ihrem inneren Auge kurz mächtige Hämmer rhythmisch auf Schädel niedergehen, die bei jedem Schlag immer platter wurden.
Sie hatte plötzlich ein starkes Bedürfnis nach Koffein, als sie die vierte Akte in Angriff nahm, aber sie beschloss, bis zum Schluss weiterzulesen. Abschließend überflog sie das angehängte Blatt. Wie bei den vorangehenden Akten jagten ihr die Dosierungen einen kalten Schauer über den Rücken:
Clozapin: 1200 mg/tgl. ( 3 Kps. 100 mg 4- mal tgl.)
Zuclopenthixolacetat: 400 mg IM tgl.
Tiaprid: 200 mg jede Stunde
Diazepam: Amp. IM 20 mg tgl.
Meprobamat: Kps. 400 mg
Verflixt, wollten sie wirklich, dass ihre Patienten nur noch vor sich hin vegetieren? Aber sie erinnerte sich wieder daran, was Alex ihr gesagt hatte: Nach jahrzehntelanger intensivster medikamentöser Behandlung waren die meisten Insassen des Instituts gegen Psychopharmaka resistent. Diese
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