Schwarzer Schmetterling
Männer streiften mit solchen Mengen an Medikamenten in ihrem Blut durch die Flure, dass selbst ein Tyrannosaurus Rex high gewesen wäre, und sie zeigten kaum ein Zeichen von Benommenheit. Als sie die Akte wieder zuklappte, fiel ihr Blick auf eine kurze handschriftliche Notiz am Rand:
Wozu diese Medikation? Xavier gefragt. Keine Antwort.
Die Schrift war schräg und hastig. Sie allein schon verriet etwas von der Frustration und der Verärgerung desjenigen, der diese Notiz verfasst hatte. Stirnrunzelnd sah sie sich noch einmal die Liste der Medikamente und der Dosierungen an. Sie konnte die Verwunderung der Person, die diese Worte geschrieben hatte, sofort nachvollziehen. Sie erinnerte sich, dass Clozapin dann eingesetzt wurde, wenn sich die anderen Neuroleptika als wirkungslos erwiesen. Aber wozu dann noch Zuclopenthixol verschreiben? Und es gab keinen Grund, bei der Behandlung von Angstzuständen zwei Anxiolytika oder zwei Hypnotika miteinander zu kombinieren. Aber genau das geschah hier. Es gab vielleicht noch weitere Anomalien, die ihr entgingen – schließlich war sie weder Psychiaterin noch Ärztin –, dem Verfasser der Notiz waren sie jedenfalls nicht entgangen. Offensichtlich hatte Xavier nicht die Güte gehabt zu antworten. Diane fragte sich perplex, ob sie das etwas anging. Aber schließlich war das hier die Akte eines ihrer Patienten. Ehe sie eine Psychotherapie beginnen konnte, musste sie wissen, weshalb man ihm diesen aberwitzigen Medikamentencocktail verordnet hatte. Die Akte sprach von einer schizophrenen Psychose, akuten Wahnzuständen, Verwirrtheit – aber eigenartigerweise fehlten exakte Angaben.
Sollte sie Xavier fragen? Die Person, die diese Notiz geschrieben hatte, hatte das bereits getan. Ohne Erfolg. Sie nahm sich die vorigen Akten noch einmal vor und überprüfte nacheinander die Unterschriften der Stations-Oberpfleger und des Verwalters der Apotheke. Schließlich fand sie, was sie suchte. Über eine der Unterschriften hatte jemand geschrieben: »verspätete Lieferung wegen Streik der öffentlichen Verkehrsmittel«. Sie verglich die Buchstaben. Ihre Form war identisch: Die Notiz am Rand stammte von dem Pfleger, der den Medikamentenbestand verwaltete.
Ihn musste sie als Erstes befragen.
Über die Treppe stieg sie in den zweiten Stock, die Akte unterm Arm. Die Klinikapotheke wurde von einem etwa dreißigjährigen Pfleger geführt, der verwaschene Jeans, einen weißen Kittel und abgenutzte Basketballschuhe trug. Er hatte einen Dreitagebart und struppiges Haar. Wegen der Schatten unter seinen Augen vermutete Diane, dass er außerhalb des Instituts ein intensives und vergnügliches Nachtleben genoss.
Die Apotheke bestand aus zwei Zimmern – das eine diente als Empfang mit einer Theke voller Papierkram und Kartons; in dem zweiten Zimmer wurden die Medikamentenvorräte in Schränken aufbewahrt, die mit Sicherheitsglas versehen waren. Der Pfleger, der laut dem auf seine Brusttasche gestickten Etikett »Dimitri« hieß, sah sie mit einem etwas allzu breiten Lächeln an, als sie den Raum betrat.
»Salut«, sagte er.
»Salut«, antwortete sie, »ich hätte gern ein paar Auskünfte über die Verwaltung der Arzneimittel.«
»Gern. Sie sind die neue Psychologin, oder?«
»Genau.«
»Was würden Sie gern wissen?«
»Nun ja, wie das funktioniert.«
»Gut, gut«, sagte er, während er an dem Kugelschreiber spielte, der in seiner Brusttasche steckte. »Kommen Sie.«
Sie schlüpfte hinter die Theke. Er nahm ein großes Heft mit einem kartonierten Deckel, das aussah wie ein Rechnungsbuch.
»Das ist das Journal. Darin werden sämtliche Ein- und Ausgänge von Medikamenten vermerkt. Die Apotheke hat die Aufgabe, einerseits den Bedarf des Instituts zu erfassen und die Bestellungen aufzugeben, andererseits die Medikamente in Empfang zu nehmen und einzulagern und sie anschließend an die verschiedenen Stationen zu verteilen. Die Apotheke hat ein eigenes Budget. Die Bestellungen im Großhandel erfolgen monatlich, aber es gibt auch Sonderbestellungen.«
»Wer außer Ihnen weiß über die Ein- und Ausgänge Bescheid?«
»Jeder kann im Journal nachsehen. Aber sämtliche Lieferscheine und sämtliche Bestellungen müssen von Dr. Xavier persönlich oder von Lisa beziehungsweise Dr. Lepage, dem Chefarzt, gegengezeichnet werden. Im Übrigen wird für jedes Produkt ein eigener Lagerschein geführt.« – Er nahm einen dicken Ordner heraus und schlug ihn auf. – »Sämtliche am Institut
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