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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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weißen Teppichboden. Die Fotos und die Postkarten, die CDs und die Schulsachen, die Kleidung und die Bücher.
Ein Tagebuch … Es fehlte ein Tagebuch …
Servaz war immer fester davon überzeugt, dass eine Heranwachsende wie Alice ein Tagebuch geführt haben musste.
    Irgendwo musste einfach ein Tagebuch sein …
    Er dachte wieder an Gaspard Ferrand, den Philologen, Weltenbummler, Yogi … Unwillkürlich verglich er ihn mit seinem eigenen Vater. Er war ebenfalls Philologe: Latein- und Griechischlehrer. Ein brillanter, verschlossener, exzentrischer Mensch – der manchmal auch cholerisch war.
Genus irritabile vatum:
»das reizbare Geschlecht der Dichter«.
    Servaz wusste ganz genau, dass auf diesen Gedanken ein weiterer folgen musste, aber es war bereits zu spät, um den Strom einzudämmen, und er ließ sich von den Erinnerungen überfluten, die ihn mit alptraumhafter Genauigkeit in Beschlag nahmen.
    Die Tatsachen. Nichts als die Tatsachen.
    Die Tatsachen waren die folgenden: An einem lauen Juliabend spielte der zehnjährige Martin Servaz im Hof des elterlichen Hauses, als sich die Scheinwerfer eines Autos auf der langen, geraden Straße näherten. Das Haus der Servaz war ein abgelegener alter Bauernhof, drei Kilometer von der nächstgelegenen Ortschaft entfernt. Zehn Uhr abends. Die Landschaft war in mildes Halbdunkel getaucht, auf den angrenzenden Feldern würde das Zirpen der Grillen bald dem Quaken der Frösche weichen, ein dumpfes Donnergrollen ertönte von den Bergen am Horizont, und Sterne zeichneten sich immer deutlicher am noch fahlen Himmel ab. In diese abendliche Stille brach das kaum wahrnehmbare Zischen dieses Autos hinein, das sich auf der Straße näherte. Das Zischen war zu einem Motorengeräusch geworden, und der Wagen hatte seine Geschwindigkeit gedrosselt. Er hatte seine Scheinwerfer auf das Haus gerichtet und war langsam den holprigen Weg hinaufgefahren. Seine Reifen hatten auf dem Kies geknirscht, als er durch das große Tor fuhr und im Hof bremste. Die Pappeln hatten in einem Windstoß sanft gerauscht, als die beiden Männer ausstiegen. In der Dunkelheit unter den Bäumen konnte er ihre Gesichter kaum erkennen, aber die Stimme von einem der beiden hatte er ganz deutlich gehört:
    »Salut, mein Kleiner, sind deine Eltern da?«
    Im gleichen Moment war die Haustür aufgegangen, und im Licht auf der Türschwelle war seine Mutter aufgetaucht. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, war daraufhin an seine Mutter herangetreten und entschuldigte sich für die Störung, wobei er sehr schnell sprach, während der zweite Mann freundschaftlich eine Hand auf seine Schulter legte. An dieser Hand war irgendetwas, was dem jungen Servaz sofort missfallen hatte. Wie eine winzige Störung der friedlichen Abendstimmung. Wie eine dumpfe Bedrohung, die nur der kleine Junge bemerkte, obgleich sich der erste Mann sehr freundlich ausdrückte und er seine Mutter lächeln sah. Als er den Kopf hob, hatte er seinen Vater mit gerunzelter Stirn am Fenster seines Arbeitszimmers im ersten Stock stehen sehen, wo er die Klassenarbeiten seiner Schüler korrigierte. Er wollte seiner Mutter zurufen, sie solle aufpassen und sie nicht ins Haus lassen – aber man hatte ihm beigebracht, höflich und still zu sein, wenn sich Erwachsene unterhielten.
    Er hatte seine Mutter sagen hören: »Treten Sie ein!«
    Dann hatte ihn der Mann hinter ihm sanft vorwärtsgestoßen, seine kräftigen Finger brannten regelrecht durch den dünnen Stoff seines kurzärmeligen Hemds hindurch, und er hatte diese Geste nicht mehr als freundschaftlich, sondern als autoritär erlebt. Noch heute erinnerte er sich, dass jeder ihrer Schritte auf dem Kies wie eine Warnung in seinem Kopf widerhallte. Er erinnerte sich an den starken Geruch nach Eau de Toilette und Schweiß hinter ihm. Er erinnerte sich, dass ihm das Zirpen der Grillen mit einem Mal sehr laut vorgekommen war und wie ein Alarm in seinem Kopf dröhnte. Selbst sein Herz pochte wie eine unheilkündende afrikanische Trommel. Als sie den Treppenabsatz vor der Haustür erreichten, presste der Mann ihm etwas auf Mund und Nase. Irgendeinen feuchten Stofffetzen. Im Nu verbrannte ein Feuerstoß seinen Rachen und seine Lungen, und er hatte weiße Punkte vor den Augen tanzen sehen, ehe er in einem schwarzen Loch versank.
    Als er wieder zu sich kam, fand er sich in dem Verschlag unter der Treppe wieder – ihm war übel, und alles drehte sich. Die flehende Stimme seiner Mutter hinter der Tür flößte ihm Angst

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