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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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ein. Als er die donnernden Stimmen der beiden Männer hörte, die sie bald bedrohten, bald beruhigten und bald verhöhnten, wurde seine Angst unkontrollierbar, und er begann zu zittern. Er fragte sich, wo sein Vater war. Instinktiv wusste er, was das für Männer waren: keine richtigen Menschen, Bösewichte wie aus einem Kinofilm, bösartige Geschöpfe, Erzschurken aus einem Spiderman-Comic: der Tinkerer und der Green Goblin … Er ahnte, dass sein Vater irgendwo gefesselt lag, machtlos, wie es die Comichelden oft sind, denn sonst hätte er bereits eingegriffen, um sie zu retten. Viele Jahre später sagte er sich, dass weder Seneca noch Mark Aurel seinem Vater eine große Hilfe gewesen sein dürften, als er die beiden Besucher zur Vernunft zu bringen versuchte. Aber kann man zwei hungrige Wölfe zur Vernunft bringen? Doch der Hunger dieser Wölfe richtete sich auf etwas anderes. Hätte der junge Martin eine Uhr gehabt, dann hätte er feststellen können, dass er um zwanzig Minuten nach Mitternacht wieder zu sich gekommen war und dass noch fast fünf Stunden vergehen sollten, ehe der Schrecken ein Ende hatte – fünf Stunden, in deren Verlauf seine Mutter fast ohne Unterlass geschrien, geschluchzt, geweint, geflucht und gefleht hatte. Und während die mütterlichen Schreie nach und nach zu einem Schluchzen und Seufzen und dann zu einem unverständlichen Gemurmel wurden, während ihm der Rotz in einem zähflüssigen Streifen aus der Nase lief und der Urin sich warm zwischen seinen Schenkeln ausbreitete, während die ersten Geräusche des anbrechenden Tages durch die Tür der Abstellkammer drangen – ein Hahn, der sich verfrüht heiser schrie, ein Hund, der in der Ferne bellte, ein Wagen, der hundert Meter entfernt auf der Straße vorbeifuhr – und ein verschwommener grauer Lichtschimmer unter der Tür durchschien, wurde es im Haus allmählich still – eine vollkommene, endgültige und auf seltsame Weise beruhigende Stille.
    Servaz war schon drei Jahre bei der Polizei, als es ihm gelungen war, sich den Obduktionsbericht zu verschaffen – fünfzehn Jahre nach der Tat. Im Nachhinein wusste er, dass ihm eine verhängnisvolle Fehleinschätzung unterlaufen war. Er hatte geglaubt, die Jahre hätten ihm die nötige Kraft gegeben. Er hatte sich geirrt. Mit unsäglichem Entsetzen hatte er im Detail erfahren, was seine Mutter in dieser Nacht durchgemacht hatte. Woraufhin der junge Polizist den Bericht zugeklappt hatte, zur Toilette gestürzt war und sein Frühstück ausgespien hatte.
    Die Tatsachen. Nichts als die Tatsachen.
    Die Tatsachen waren die folgenden: Sein Vater hatte überlebt – trotzdem hatte er zwei Monate im Krankenhaus gelegen, in denen der junge Martin bei seiner Tante gewohnt hatte. Als sein Vater aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war er in seinen Beruf als Lehrer zurückgekehrt. Aber es hatte sich sehr schnell gezeigt, dass er ihn nicht länger ausüben konnte: Er war mehrmals betrunken, unrasiert und mit zerzaustem Haar vor seine Schüler getreten, die er außerdem noch ausgiebig beschimpft hatte. Die Schulbehörde hatte ihn schließlich unbefristet beurlaubt, und sein Vater hatte sich daraufhin noch tiefer reingeritten. Der junge Martin wurde erneut bei seiner Tante untergebracht … Die Tatsachen, nichts als die Tatsachen … Zwei Wochen nachdem er auf der Universität die Frau kennengelernt hatte, die er sechs Monate später heiraten sollte, wollte Servaz im Frühsommer seinen Vater besuchen. Als er aus dem Wagen stieg, warf er einen kurzen Blick auf das Haus. Die alte Scheune daneben verfiel; das Wohngebäude selbst schien leer zu stehen, mindestens die Hälfte der Fensterläden war geschlossen. Servaz schlug an die Scheibe der Haustür. Keine Antwort. Er öffnete sie. »Papa?« Schweigen. Der Alte musste wieder einmal sturzbetrunken irgendwo herumliegen. Nachdem er seine Jacke und seine Umhängetasche auf ein Möbelstück geworfen und sich in der Küche ein Glas Wasser eingeschenkt hatte, war er die Treppe hinaufgestiegen in der Erwartung, dass sein Vater in seinem Arbeitszimmer einen Rausch ausschlief. Der junge Martin hatte recht – er war tatsächlich in seinem Arbeitszimmer. Durch die geschlossene Tür hörte man gedämpfte Musik, die er sofort erkannte: Gustav Mahler, der Lieblingskomponist seines Vaters.
    Aber er hatte sich geirrt: Er schlief keinen Rausch aus. Er las auch nicht einen seiner lateinischen Lieblingsautoren. Er lag reglos in seinem Sessel, die Augen weit aufgerissen

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