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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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plötzlich mit bebender Stimme.
    Die folgende Geste überraschte ihn noch mehr. Sie neigte sich vor und drückte ihm einen weiteren Kuss auf die Wange, aber diesmal auf den Mundwinkel. Anschließend strich sie mit den Fingerspitzen flüchtig über Servaz’ Lippen – eine doppeldeutige Geste von erstaunlicher Zurückhaltung und von verblüffender Intimität –, dann ließ sie ihn stehen. Er hörte ihre Absätze auf den Metallstufen klackern, als sie hinunterstieg.
    Servaz’ Herz schlug im gleichen Rhythmus. Ihm drehte sich der Kopf. Ein Teil des Bodens war mit einem Haufen Bauschutt, Gips und Pflastersteinen bedeckt – und er fragte sich, ob es sich dabei um ein Kunstwerk oder um eine Baustelle handelte. Ihm gegenüber, an der weißen Wand, hing ein quadratisches Gemälde, auf dem es von kleinen Menschen wimmelte, die eine dichtgedrängte und bunte Menge bildeten. Es waren Hunderte – vielleicht sogar Tausende. Anscheinend hatte die Ausstellung
Grausamkeit
den ersten Stock verschont.
    »Meisterlich, nicht wahr?«, sagte eine Frau neben ihm. »Dieser Anklang an Pop-Art und Comic. Man könnte meinen, Lichtenstein im Kleinen.«
    Er wäre beinahe zusammengeschreckt. In seine Gedanken versunken, hatte er sie nicht kommen hören. Sie sprach, als machte sie Stimmübungen – ihre Stimme hob und senkte sich.
    »Quos vult perdere Jupiter prius dementat«,
sagte er.
    Die Frau sah ihn verständnislos an.
    »Das ist Lateinisch und heißt: ›Wen Jupiter zugrunde richten will, dem raubt er zuerst den Verstand.‹«
    Er verzog sich Richtung Treppe.
     
    Zu Hause legte er
Das Lied von der Erde
in der modernen Fassung von Eiji Oué mit Michelle De Young und Jon Villars auf und sprang direkt zu dem erschütternden letzten Satz,
Der Abschied.
Er war nicht müde und suchte sich in seiner Bibliothek ein Buch. Die
Aithiopika
von Heliodor.
    »Das Kind ist hier bei mir. Es ist meine Tochter; sie trägt meinen Namen; mein ganzes Leben ruht auf ihr. In jeder Hinsicht vollkommen, stellt sie mich über das Maß meiner Wünsche zufrieden. Wie schnell hat sie sich zu voller Blüte entfaltet, wie ein kraftvoller Schössling von schönem Wuchs! An Schönheit übertrifft sie alle anderen, in einem solchen Maße, dass niemand, sei er Grieche oder Ausländer, umhinkann, sie zu betrachten.«
    Vor seinem Bücherregal in einem Sessel sitzend, hielt er in seiner Lektüre inne und dachte an Gaspard Ferrand, den gebrochenen Vater. Anschließend drehten sich seine Gedanken um die Selbstmörder und um Alice, so wie ein Schwarm Krähen über einem Feld kreist. Wie die junge Chariklea bei Heliodor zog Alice sämtliche Blicke auf sich. Er hatte die Zeugenaussagen der Nachbarn noch einmal durchgelesen: Alice Ferrand war das perfekte Kind, hübsch, frühreif, mit hervorragenden schulischen Leistungen – auch im Sport – und immer hilfsbereit.
Aber in der letzten Zeit hatte sie sich verändert,
nach dem, was ihr Vater sagte. Was hatte sie erlebt? Dann dachte er an das Quartett Grimm-Perrault-Chaperon-Mourrenx. Waren Alice und die anderen Selbstmörder diesem Quartett über den Weg gelaufen? Bei welcher Gelegenheit? In der Ferienkolonie? Aber zwei der sieben Selbstmörder waren nie dort gewesen.
    Wieder fröstelte es ihn. Es schien ihm, als wäre die Temperatur in der Wohnung um mehrere Grad gefallen. Er wollte in die Küche gehen, um dort eine kleine Flasche Mineralwasser zu holen, aber plötzlich begann sich das Wohnzimmer zu drehen. Die Bücher auf den Regalen begannen zu wogen, während ihm das Licht der Lampe blendend hell und giftig vorkam. Servaz ließ sich wieder in seinen Sessel fallen.
    Er schloss die Augen. Als er sie wieder aufmachte, war das Schwindelgefühl vorbei.
Was war nur mit ihm los, verflixt?
    Er stand auf und ging ins Bad. Er nahm eine von Xaviers Tabletten heraus. Der Hals brannte ihm, das kühle Wasser verschaffte ihm für eine halbe Sekunde Linderung, dann kehrte der brennende Schmerz zurück. Er massierte sich die Augen und ging wieder ins Wohnzimmer. Er trat hinaus auf den Balkon, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Er warf einen Blick auf die Lichter der Stadt, und er überlegte, dass die modernen Städte mit ihrer unwirklichen Beleuchtung und ihrem ständigen Lärm ihren Bewohnern den Schlaf raubten und sie bei Tagesanbruch in schläfrige Gespenster verwandelten.
    Dann musste er wieder an Alice denken. Er sah das Zimmer unter dem Dach vor sich, das orangefarbene und gelbe Mobiliar, die violetten Wände und den

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