Schwarzer Schmetterling
und glasig, weißer Schaum vor dem Mund. Gift. Wie Seneca, wie Sokrates. Zwei Monate später legte Servaz die Prüfung zum Polizeibeamten ab.
Um 22 Uhr machte Diane das Licht in ihrem Büro aus. Sie nahm eine Arbeit mit, die sie abschließen wollte, ehe sie sich schlafen legte, und stieg hinauf in ihr Zimmer im vierten Stock. Dort war es noch immer genauso kalt, und sie zog ihren Morgenmantel über die Kleider, bevor sie sich ans Kopfende des Bettes setzte und mit der Lektüre begann. Sie überflog ihre Aufzeichnungen und sah noch einmal den ersten Patienten dieses Tages vor sich: einen kleinen Mann von vierundsechzig Jahren, der völlig harmlos aussah und eine schrille, krächzende Stimme hatte, als hätte man ihm die Stimmbänder abgefeilt. Ehemaliger Philosophielehrer. Er hatte sie mit ausgesuchter Höflichkeit begrüßt, als sie den Raum betrat. Sie hatte sich mit ihm in einem Salon unterhalten, dessen Tische und Sessel in den Boden einzementiert waren. Es gab einen Fernseher mit Großbildschirm in einem Gehäuse aus Plexiglas, und alle spitzen Ecken und scharfen Kanten der Möbel waren mit Kunststoff überzogen. Sonst war niemand im Zimmer, aber ein Pflegehelfer stand in der Tür Wache.
»Victor, wie fühlen Sie sich heute?«, hatte sie gefragt.
»Wie ein verdammter Sack Scheiße …«
»Wie meinen Sie das?«
»Wie ein großer Kothaufen, ein Exkrement, eine Kotkugel, eine braune Wurst, ein Kaka, ein …«
»Victor, warum sind Sie so vulgär?«
»Ich fühle mich wie das, was Sie aus Ihrem Hintern abseilen, Doc, wenn Sie aufs …«
»Wollen Sie mir nicht antworten?«
»Ich fühle mich wie …«
Sie hatte sich gesagt, dass sie ihn nie mehr fragen würde, wie er sich fühlte. Victor hatte seine Frau, seinen Schwager und seine Schwägerin mit der Axt erschlagen. Seiner Akte zufolge hatten ihn seine Frau und deren Familie wie den letzten Dreck behandelt und sich ständig über ihn lustig gemacht. In seinem »normalen« Leben war Victor ein hervorragend ausgebildeter und hochkultivierter Mann gewesen. Bei seinem letzten Klinikaufenthalt hatte er sich auf eine Krankenschwester geworfen, die das Pech hatte, vor ihm zu lachen. Zum Glück wog er nur fünfzig Kilo.
Sie versuchte vergeblich, sich auf seinen Fall zu konzentrieren, es gelang ihr nicht. Etwas anderes schlich am Rand ihres Bewusstseins herum. Sie wollte diese Arbeit so schnell wie möglich beenden, um zu dem zurückzukehren, was in der Klinik vor sich ging. Sie wusste nicht, was sie finden würde, aber sie war fest entschlossen, ihre Nachforschungen fortzusetzen. Und mittlerweile wusste sie, wo sie ansetzen musste. Die Idee war ihr gekommen, als sie Xavier beim Verlassen ihres Büros ertappt hatte.
Als sie die nächste Akte aufschlug, sah sie den Patienten sogleich wieder im Geiste vor sich. Ein vierzigjähriger Mann mit fiebrigem Blick, Hohlwangen, die unter einem Bart fast verschwanden, und schmutzigem Haar. Ein ehemaliger Meeresbiologe ungarischer Abstammung, der ein hervorragendes Französisch mit starkem slawischem Akzent sprach. György.
»Wir sind mit den großen Tiefen verbunden«, hatte er ihr gleich beim ersten Treffen gesagt. »Sie wissen es noch nicht, Doktor, aber wir existieren nicht wirklich, wir existieren nur als Gedanken, wir sind geistige Ausgeburten der Geschöpfe der Tiefsee, die in über 2000 Meter Tiefe am Grund der Meere leben. Es ist das Reich der ewigen Finsternis, das Tageslicht erreicht den Meeresboden nicht. Es ist dort ständig
dunkel.
« Als sie dieses Wort hörte, spürte sie, wie sie der eisige Flügel der Angst streifte. »Und kalt, sehr, sehr kalt. Und da herrscht ein kolossaler Druck. Er steigt alle zehn Meter um eine Atmosphäre. Nur diese Lebewesen können diesem enormen Druck standhalten. Sie gleichen Ungeheuern. Wie wir. Sie haben riesige Augen, Kiefer voller scharfer Zähne und Leuchtorgane, die sich über den gesamten Körper ziehen. Sie sind entweder Aasfresser, die sich von den Kadavern ernähren, die aus den oberen Meeresschichten zu Boden sinken, oder schreckliche Räuber, die in der Lage sind, ihre Opfer in einem Stück hinunterzuschlingen. Dort unten ist alles Finsternis und Grausamkeit. Wie hier. Da gibt es den Viperfisch,
Chauliodus sloani,
dessen Kopf aussieht wie ein mit messerlangen, glasklaren Zähnen gespickter Schädel und dessen schlangenförmiger Körper von Leuchtpunkten übersät ist. Da hausen auch
Linophryne lucifer
und
Photostomias guernei,
die hässlicher und erschreckender
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