Schwarzer Schmetterling
sie die Hauptverdächtige.«
»Okay. Ich hab noch etwas Interessantes herausgefunden«, schloss sie an.
Servaz wartete gespannt.
»In ihrer Jugend hatte die Pflegedienstleiterin der Klinik, Elisabeth Ferney, Probleme mit der Justiz. Strafrechtliche Sachen – Ordnungswidrigkeiten, Delikte. Diebstahl von Motorrollern, Beleidigung von Polizeibeamten, Drogenmissbrauch, Körperverletzung, Erpressung … Es gab damals mehrere Strafprozesse gegen sie.«
»Und sie wurde trotzdem vom Institut eingestellt?«
»Das ist lange her. Sie hat sich berappelt und eine Ausbildung gemacht. Anschließend hat sie in mehreren psychiatrischen Kliniken gearbeitet, ehe Wargnier, Xaviers Vorgänger, sie unter seine Fittiche genommen hat. Jedem steht eine zweite Chance zu.«
»Interessant.«
»Und dann ist Lisa Ferney auch aktives Mitglied eines Bodybuildingklubs in Saint-Lary, zwanzig Kilometer von hier. Und außerdem ist sie in einem Schützenverein.«
Servaz und d’Humières spitzten die Ohren. Ein Gedanke schoss Servaz durch den Kopf: Seine Intuition, als er das Institut zum ersten Mal besuchte, hatte vielleicht den Nagel auf den Kopf getroffen. Lisa Ferney hatte das passende Profil … Diejenigen, die das Pferd an der Bergstation aufgehängt hatten, mussten körperlich sehr stark sein. Und die Pflegedienstleiterin war stärker als so mancher Mann.
»Bohr weiter«, sagte er. »Vielleicht ist das eine Spur.«
»Ach ja, ich hätte es beinahe vergessen: die Kassetten …«
»Und?«
»Es waren nur Vogelstimmen.«
»Oh.«
»Gut, ich fahre zum Rathaus und sehe, ob es dort eine Liste der Kinder gibt, die Ferien in der Kolonie gemacht haben«, sagte sie schließlich.
»Meine Damen und Herren, lassen Sie den Commandanten jetzt bitte in Ruhe«, ertönte eine kräftige Stimme von der Tür her.
Sie drehten sich um. Ein etwa dreißigjähriger Arzt im weißen Kittel hatte gerade das Zimmer betreten. Er hatte eine dunkle Haut und dichte schwarze Augenbrauen, die an der Wurzel der fleischigen Nase fast zusammenliefen. Servaz las auf dem Kittel: »Dr. Saadeh«. Lächelnd trat er heran. Aber sein Blick lächelte nicht, und seine gerunzelten Brauen gaben ihnen unmissverständlich zu verstehen, dass Richter und Gendarmen sich an diesem Ort einer höheren Autorität beugen mussten: der Ärzteschaft. Servaz dagegen hatte bereits begonnen, die Bettlaken zurückzuschlagen.
»Ich bleibe auf keinen Fall hier«, sagte er.
»Ich lasse Sie auf keinen Fall in diesem Zustand gehen«, erwiderte Dr. Saadeh und legte ihm eine freundschaftliche, aber feste Hand auf die Schulter. »Unsere Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.«
»Dann machen Sie schnell.« Resigniert ließ sich Servaz in die Kopfkissen zurücksinken.
Aber sobald alle draußen waren, schloss er die Augen und schlief ein.
Im selben Augenblick hob ein Polizeibeamter in dem festungsähnlichen Gebäude des Generalsekretariats von Interpol im Quai Charles-de-Gaulle Nr. 200 in Lyon sein Telefon ab. Der Mann befand sich in der Mitte eines riesigen Open Space voller Computer, Telefone, Drucker und Kaffeemaschinen mit einem Rundblick auf die Rhône. Außerdem ragte die sternbekrönte Spitze eines großen Weihnachtsbaumes über die Zwischenwände auf.
Er runzelte die Stirn, als er die Stimme seines Gesprächspartners erkannte.
»Vincent? Bist du’s? Wie lange ist das her, mein Guter? Was treibst du denn so?«
Interpol ist nach der Anzahl ihrer Mitgliedstaaten die zweitgrößte internationale Organisation nach der UNO . Allerdings stellen die zentralen Dienststellen von Interpol keine Polizeibehörde im eigentlichen Sinne dar – eher eine Auskunftsstelle, an die sich die Polizeibehörden der Mitgliedstaaten wenden, um fachlichen Rat einzuholen und Datenbankrecherchen durchzuführen. Mehrere tausend internationale Haftbefehle werden dort jährlich ausgestellt: die berühmten »red notices«. Der Mann, der gerade ans Telefon gegangen war, hieß Luc Damblin. Espérandieu hatte Damblin, wie Marissa, an der Polizeiakademie kennengelernt. Die beiden Männer tauschten ein paar Höflichkeiten aus, ehe Espérandieu zum Kern der Sache kam.
»Könntest du mir einen Gefallen tun?«
Damblin richtete seinen Blick unwillkürlich auf die Porträts, die an der Zwischenwand vor ihm über dem Kopierer hingen: russische Mafiosi, albanische Zuhälter, Bonzen der mexikanischen und kolumbianischen Drogenmafia, serbische und kroatische Schmuckräuber und internationale Pädophile, die in armen
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