Schwarzer Schmetterling
vorschriftsgemäß abgelaufen war – sofern das jemals gelingen sollte –, würde der Verdacht immer bleiben.
»Willst du einen Kaffee?« Servaz nickte. Espérandieu stand auf und verließ das Zimmer. Servaz betrachtete die Computer-Bildschirme, die im Halbdunkel flackerten. Wieder dachte er an diese drei Jungs und fragte sich, was sie zu dieser Wahnsinnstat veranlasst hatte.
Diesen Jungen verkaufte man den ganzen Tag Träume und Lügen. Man
verkaufte
sie ihnen: Sie bekamen sie nicht etwa geschenkt. Zynische Händler hatten die Unzufriedenheit der Jugend als Geschäftsgrundlage entdeckt. Mittelmäßigkeit, Pornographie, Gewalt, Lüge, Hass, Alkohol, Drogen – alles wurde in den überladenen Schaufenstern der Konsumgesellschaft zum Kauf angeboten, und die Jugendlichen waren die gefundene Zielgruppe.
Espérandieu kam mit dem Kaffee zurück.
»Die Zimmer der Jungs?«, fragte Servaz.
Samira Cheung betrat das Büro. Die neue Kollegin trug an diesem Morgen einen kurzen Blouson, der für die Jahreszeit etwas zu leicht war, ein Sweatshirt mit der Aufschrift
I am an Anarchist,
eine schwarze Lederhose und kniehohe Stiefel aus rotem PVC .
»Hallo!«, sagte sie – die Kopfhörer ihres iPod baumelten über ihrem Blouson, und sie hielt einen dampfenden Becher in der Hand.
Servaz grüßte sie zurück, nicht ohne eine Mischung aus Faszination und Ratlosigkeit angesichts der seltsamen Aufmachung der Polizistin. Samira Cheung war über ihren Vater chinesischer und über ihre Mutter französisch-marokkanischer Abstammung. Sie hatte Espérandieu erzählt (und der hatte es brühwarm Servaz weitergesagt), dass ihre Mutter, eine international renommierte Innenarchitektin, sich vor sechsundzwanzig Jahren unsterblich in einen Kunden aus Hongkong verliebt hatte – einen Mann von außergewöhnlicher Schönheit und Intelligenz, wie Samira behauptete –, dann aber schwanger nach Paris zurückgekehrt sei, nachdem sie herausgefunden hatte, dass Samiras Vater ein großer Fan harter Drogen war und fast täglich Prostituierte frequentierte. Ein verstörendes Detail: Samira Cheung verband einen perfekten Körper mit einem der hässlichsten Gesichter, das Servaz je gesehen hatte. Hervorstehende Augen, die sie mit einem dicken Eyeliner-Strich noch zusätzlich betonte, ein riesiger Mund, der mit einem aufreizenden Rot bemalt war, und ein spitzes Kinn. Einer der Phallokraten der Mordkommission hatte ihr Aussehen so auf den Punkt gebracht: »Mit der ist alle Tage Halloween.« Es gab allerdings eines, wofür sie ihren Genen oder ihrer Erziehung dankbar sein konnte: Samira Cheung hatte ein perfekt arbeitendes Gehirn. Und sie zögerte nicht, es zu nutzen. Sie hatte die Grundbegriffe des Fachs sehr schnell verinnerlicht und bei mehreren Gelegenheiten von sich aus die Initiative ergriffen. Servaz hatte ihr spontan immer komplexere Aufgaben übertragen, und sie hatte reihenweise Überstunden gemacht, um alles zu erledigen.
Sie legte die Absätze ihrer Stiefel auf den Rand des Schreibtischs und warf sich gegen die Rückenlehne ihres Stuhls, bevor sie sich ihnen zuwandte.
»Wir haben die Zimmer der drei Jungs durchsucht«, antwortete sie auf Servaz’ Frage. »Insgesamt haben wir nicht viel gefunden – abgesehen von einem Detail.«
Servaz sah sie an.
»Die beiden ersten hatten extrem gewalttätige Videospiele. Solche, bei denen man seinen Gegnern den Kopf zertrümmern muss, um die maximale Punktzahl zu bekommen; oder bei denen man ganze Völker bombardiert oder seine Feinde mit allen erdenklichen modernen Waffen um die Ecke bringt. Ziemlich blutrünstiges Zeug.«
Servaz dachte an die heftige Kontroverse über diese gewalttätigen Videospiele, die unlängst in der Presse getobt hatte. Die Produzenten dieser Videos hatten erklärt, ihnen sei das Problem der Gewalt durchaus bewusst, und sie hielten sich an gewisse Grenzen. Einige Vorwürfe hatten sie als »völlig inakzeptabel« bezeichnet. Und boten dabei fröhlich weiter Spiele zum Verkauf an, bei denen der Spieler nach Belieben morden, plündern und foltern konnte. Bei dieser Gelegenheit hatten einige Psychiater schulmeisterlich erklärt, zwischen diesen Videospielen und der Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen bestehe keinerlei Zusammenhang. Dabei belegten andere Studien zweifelsfrei, dass Jugendliche, die regelmäßig gewalttätige Videospiele spielten, gegenüber dem Leiden anderer gleichgültiger und weniger einfühlsam waren.
»Bei diesem Clément haben wir zwar eine Konsole, aber
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