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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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erwartete sie einen Anruf? Und dieser blaue Fleck an der Wange: Margots Erklärungen hatten ihn nicht überzeugt. Er würde mit ihrer Mutter darüber sprechen.
    Bis zum Morgengrauen durchstöberte Servaz die Lebensgeschichte von Julian Hirtmann. Als er sich schließlich hinlegte, an diesem Sonntag, den 14 . Dezember, hatte er den Eindruck, die Teile zweier verschiedener Puzzlespiele in Händen zu halten: Nichts passte zusammen.
    Seine Tochter hatte Ringe unter den Augen und einen traurigen Blick. Und sie hatte einen blauen Fleck an der Wange.
Was hatte das zu bedeuten?
     
    An diesem Abend dachte Diane Berg an ihre Eltern. Ihr Vater war ein verschlossener Mann, ein Bourgeois, ein strenger, distanzierter Calvinist, wie die Schweiz sie mit der gleichen Mühelosigkeit hervorbrachte, mit der sie Schokolade und Safes produzierte. Ihre Mutter lebte in einer eigenen Welt, einer unzugänglichen Phantasiewelt, in der sie die Engel musizieren hörte und deren Zentrum und Daseinsgrund sie selbst war – wobei ihre Stimmung ständig zwischen Überschwang und Depression schwankte. Eine Mutter, die allzu sehr mit sich selbst beschäftigt war, als dass sie ihren Kindern mehr als eine dürftige Zuwendung hätte bieten können, und Diane hatte schon früh für sich entschieden, dass sie mit der bizarren Welt ihrer Eltern nichts zu tun haben wollte.
    Mit vierzehn war sie zum ersten Mal von zu Hause weggelaufen. Sie war nicht weit gekommen. Die Genfer Polizei hatte sie zurückgebracht, nachdem sie zusammen mit einem gleichaltrigen Jungen, den sie zwei Stunden zuvor kennengelernt hatte, beim Diebstahl einer CD von Led Zeppelin erwischt worden war. In einem solchen
harmonischen
Umfeld war die Revolte unvermeidlich, und Diane hatte »Grunge«-, »New Punk«- und »Gothic«-Phasen durchgemacht, ehe sie ein Psychologiestudium aufnahm und lernte, sich selbst und auch ihre Eltern besser zu verstehen, ohne sie freilich ganz zu begreifen.
    Entscheidend war die Begegnung mit Spitzner gewesen. Diane hatte vor ihm nicht viele Liebhaber gehabt, auch wenn sie nach außen hin den Eindruck erweckte, eine selbstsichere und unternehmungslustige junge Frau zu sein. Aber nicht bei Spitzner. Er hatte sie sehr schnell durchschaut. Von Anfang an hatte sie geargwöhnt, dass sie nicht seine erste studentische Eroberung war. Er hatte das bestätigt, aber es war ihr egal. Ebenso wie ihr der Altersunterschied und der Umstand egal waren, dass Spitzner verheiratet und Vater von sieben Kindern war. Hätte sie ihre psychologischen Fähigkeiten auf ihren eigenen Fall anwenden müssen, so hätte sie in dieser Beziehung das reinste Klischee gesehen: Pierre Spitzner verkörperte all das, was ihre Eltern nicht waren. Und alles, was diese verabscheuten.
    Sie erinnerte sich an ein langes, sehr ernstes Gespräch mit ihm.
    »Ich bin nicht dein Vater«, hatte er zum Schluss gesagt. »Und nicht deine Mutter. Verlang von mir nicht Dinge, die ich dir niemals geben kann.«
    Er hatte sich auf dem Sofa des kleinen Single-Apartments ausgestreckt, das ihm von der Universität zur Verfügung gestellt wurde, ein Glas Jack Daniel's in der Hand, stoppelbärtig, struppig und mit nacktem Oberkörper, wobei er seinen für einen Mann seines Alters bemerkenswert festen Körper mit einer gewissen Eitelkeit zur Schau stellte.
    »Was zum Beispiel?«
    »Treue.«
    »Schläfst du zurzeit mit anderen Frauen?«
    »Ja, mit meiner Frau.«
    »Ich meine: mit anderen.«
    »Nein, zurzeit nicht. Zufrieden?«
    »Ist mir egal.«
    »Du lügst.«
    »Okay, ist mir nicht egal.«
    »Mir dagegen
ist
es egal, mit wem du schläfst«, hatte er geantwortet.
    Aber es gab da etwas, was weder ihm noch sonst jemandem aufgefallen war: Die Gewohnheit, vor geschlossenen Türen zu stehen, vor Räumen, auf denen »Zutritt verboten« stand, und die mütterlichen Geheimnisse hatten bei Diane eine Neugierde erzeugt, die weit über das normale Maß hinausging. Eine Neugierde, die ihr in ihrem Beruf zugutekam, sie aber manchmal in unangenehme Situationen brachte. Diane tauchte aus ihren Gedanken auf und sah, wie der Mond hinter den Wolken verschwand, die sich ausfransten wie Gaze. Einige Sekunden später tauchte er in einer weiteren Lücke auf, dann verschwand er wieder. Kurz vor ihrem Fenster schien der Ast einer schneebedeckten Tanne unter der weißen Milch, die vom Himmel fiel, einen Moment zu glitzern – eher er wieder von der Dunkelheit verschluckt wurde.
    Sie wandte sich von dem schmalen, tiefen Fenster ab. Die roten

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