Schwarzer Schmetterling
wusste er:
Es gibt keine harmlose Technologie.
In dieser technologisierten, vernetzten Welt wurde der Raum für echte Freiheit und authentisches Denken immer seltener. Wozu sollte dieser Konsumwahn, diese Faszination für die überflüssigsten Gadgets gut sein? Weshalb kam ihm mittlerweile ein Stammesmitglied auf Neuguinea geistig gesünder und gescheiter vor als die meisten Leute, mit denen er zu tun hatte? Hatte er den Verstand verloren, oder betrachtete er, wie der antike Philosoph in seinem Fass, eine Welt, die den Verstand verloren hatte? Er steckte die Liste in seine Tasche und küsste sie auf die Stirn.
»Ich werde darüber nachdenken.«
Das Wetter war im Laufe des Nachmittags umgeschlagen. Es regnete, es wehte ein kräftiger Wind, und sie hatten sich unter einer von Böen gepeitschten Ladenmarkise untergestellt, vor einem der zahlreichen hellerleuchteten Schaufenster in der Stadtmitte. Die Straßen waren voller Menschen, Autos und Weihnachtsschmuck.
Wie war das Wetter wohl da oben?, fragte er sich plötzlich. Schneite es an der Klinik? Servaz stellte sich Julian Hirtmann in seiner Zelle vor, wie er seinen hochgewachsenen Körper aufrichtete, um zu beobachten, wie der Schnee vor seinem Fenster lautlos auf die Erde fiel. Seit gestern, seit den Enthüllungen von Capitaine Ziegler im Auto, hatte er fast unentwegt an den schweizerischen Hünen denken müssen.
»Papa, hörst du mir zu?«
»Ja, natürlich.«
»Du vergisst meine Liste doch nicht, gell?«
In diesem Punkt beruhigte er sie. Dann schlug er ihr vor, in einem Café an der Place du Capitole etwas zu trinken. Zu seiner großen Überraschung bestellte sie ein Bier. Bis jetzt hatte sie immer Cola light getrunken. Servaz wurde sich plötzlich der Tatsache bewusst, dass seine Tochter siebzehn war und dass er sie, obwohl ihr Körper für sich sprach, ansah, als wäre sie fünf Jahre jünger. Vielleicht war diese Kurzsichtigkeit der Grund dafür, dass er seit einiger Zeit nicht mehr recht wusste, wie er mit ihr umgehen sollte. Wieder fiel sein Blick auf den blauen Fleck an ihrem Wangenknochen. Er beobachtete seine Tochter einen Moment lang heimlich. Sie hatte Schatten unter den Augen und betrachtete mit trauriger Miene ihr Bierglas. Plötzlich überfielen ihn alle möglichen Fragen. Was machte sie traurig? Von wem erwartete sie um ein Uhr morgens einen Anruf? Woher stammte dieser Bluterguss auf ihrer Wange? Typische Fragen eines Polizisten, sagte er sich. Nein: Fragen eines Vaters …
»Dieser blaue Fleck. Wie ist das passiert?«
Sie sah zu ihm auf.
»Was?«
»Der blaue Fleck auf deiner Wange … woher hast du den?«
»Ähm … ich hab mich gestoßen. Warum?«
»Gestoßen, wo?«
»Ist das wichtig?«
Ihr Ton war schneidend. Er wurde rot. Es war leichter, einen Tatverdächtigen zu befragen, als seine eigene Tochter.
»Nein«, sagte er.
»Mama sagt, dein Problem ist, dass du überall Böses siehst. Eine Berufskrankheit.«
»Vielleicht hat sie recht.«
Jetzt schlug er die Augen auf sein Bier nieder.
»Ich bin im Dunkeln aufgestanden, um aufs Klo zu gehen, und ich bin gegen eine Tür gestoßen. Genügt dir das als Antwort?«
Er starrte sie an und fragte sich, ob er ihr glauben konnte. Es war eine plausible Antwort, er selbst hatte sich bereits, mitten in der Nacht, auf diese Weise die Stirn gestoßen. Aber in dem Tonfall und der Aggressivität ihrer Antwort lag etwas, was ihn beunruhigte. Oder bildete er sich das nur ein? Weshalb durchschaute er im Allgemeinen die Personen, die er befragte, relativ schnell – und weshalb blieb ihm seine eigene Tochter so undurchsichtig? Und, ganz grundsätzlich: Wieso war er wie ein Fisch im Wasser, wenn er ermittelte, und in zwischenmenschlichen Beziehungen so unfähig? Er wusste, was ein Psychologe gesagt hätte. Er hätte ihn nach seiner Kindheit gefragt …
»Wie wär’s, wenn wir ins Kino gehen?«, sagte er.
Nachdem er an diesem Abend ein Fertiggericht in die Mikrowelle geschoben und einen Kaffee getrunken hatte (er bemerkte zu spät, dass die Kaffeedose leer war, und musste auf ein uraltes Glas mit löslichem Kaffee zurückgreifen), vertiefte er sich wieder in die Biographie von Julian Alois Hirtmann. Es war Nacht über Toulouse. Draußen stürmte und regnete es, aber in seinem Arbeitszimmer regierten die Musik Gustav Mahlers (die Sechste Symphonie) und eine tiefe Konzentration, befördert durch die späte Stunde und das Halbdunkel, das nur von einer kleinen Arbeitslampe und dem leuchtenden
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