Schwarzer Schmetterling
der modernen Kommunikationsmittel brauchte er nicht in Paris zu leben, wo der Enfer-Verlag seinen Sitz hatte; es genügte, wenn er ein halbes Dutzend Mal im Jahr dorthin reiste. Zu Beginn war es den Einwohnern von Saint-Martin nicht ganz leicht gefallen, sich an sein Aussehen zu gewöhnen, das mit seinen schwarzen und gelben Dreadlocks, seinem orangefarbenen Bandana, seinen zahlreichen Piercings und seinem rosa Spitzbart geradezu der Karikatur eines Aussteigers entsprach. Als der Sommer kam, konnten sie auch das Dutzend Tattoos auf seinem ausgemergelten Körper bewundern: an den Schultern, den Armen, dem Rücken, dem Hals, den Waden, den Schenkeln – echte dreifarbige Kunstwerke, die überall unter seinen Shorts und Muscle-Shirts hervorschauten. Allerdings gewann Rico bei näherem Kennenlernen: Er war nicht nur ein begabter Zeichner, sondern auch ein charmanter Kerl mit trockenem Humor, der sich gegenüber den Nachbarn, Kindern und älteren Menschen ausgesprochen zuvorkommend verhielt.
An diesem Morgen schlüpfte Rico für den Berglauf in spezielle Laufschuhe, streifte sich über die Kopfhörer seines MP 3 -Players eine Mütze mit Ohrenschützern, wie sie die Bauern auf den Hochebenen der Anden trugen, und steuerte mit flinken Schritten auf den Wanderweg zu, der gleich hinter dem Supermarkt begann, etwa zweihundert Meter von seiner Wohnung entfernt.
Der Nebel hatte sich noch nicht gelichtet. Auf dem leeren Parkplatz schlängelte er sich zwischen Reihen abgestellter Einkaufswagen hindurch. Als er auf dem Wanderweg war, machte Rico größere Schritte. Hinter ihm schlugen die Kirchenglocken acht Uhr. Es schien ihm, als würden ihre Schallwellen durch mehrere Watteschichten zu ihm vordringen.
Er achtete darauf, sich auf dem unebenen, von Wurzeln und großen Steinen übersäten Boden nicht die Knöchel zu verstauchen. Zwei Kilometer durch eine verdeckte Senke im Getöse des Wildbachs, den er auf festen kleinen Brücken aus Tannenstämmen mehrfach überquerte – und dann wurde der Hang steiler, und er spürte, wie sich seine Waden unter der Anstrengung anspannten. Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet. Er erblickte die Eisenbrücke, die den Gebirgsbach ein Stück weiter oben überspannte, dort, wo er sich in einen tosenden Wasserfall verwandelte. Der steilste Abschnitt des Weges. Dort oben angekommen, wurde das Gelände fast wieder flach. Als er den Kopf hob und kurz innehielt, bemerkte er, dass unter der Brücke etwas hing.
Ein Sack oder ein voluminöses Objekt, das an der metallenen Brückenplatte befestigt war.
Er senkte den Kopf, um die letzten Kehren hinter sich zu bringen, und hob ihn erst wieder, als er die Brücke erreichte. Sein Herz raste. Doch als er aufsah, explodierte es regelrecht: Es war kein Sack, was da unter der Brücke hing – sondern eine Leiche! Rico erstarrte. Der Schock nach diesem Aufstieg hatte ihm den Atem verschlagen. Mit offen stehendem Mund starrte er den Leichnam an und rang nach Atem; die Hände in die Hüften gestützt, schleppte er sich die letzten Meter dahin.
Verdammter Mist, was ist das denn?
Zuerst konnte Rico nicht glauben, was er da sah. Er fragte sich, ob er vielleicht Halluzinationen hatte, vielleicht aufgrund der nächtlichen Exzesse, aber im nächsten Moment wusste er, dass das keine Vision war. Es war viel zu real, viel zu – furchtbar. Das hier hatte nicht das Geringste mit den Horrorfilmen zu tun, die er so mochte. Was er da sah, war ein Mensch …
ein nackter Toter, der an einer Brücke hing!
Gottverdammte Scheiße!!!
Eine eisige Kälte drang in seine Adern.
Er blickte sich um, und ein kalter Schauer rieselte ihm über den Rücken. Das war kein Selbstmord gewesen: Außer dem Gurt, der dem Mann die Kehle zuschnürte, war er mit mehreren weiteren Gurten an dem Eisengerüst der Brücke befestigt, und außerdem hatte man ihm eine
Kapuze
über den Kopf gezogen … eine schwarze Kapuze aus wasserdichtem Stoff, die sein Gesicht verbarg und hinten in ein Cape überging, das ihm den Rücken herunterhing.
Verdammt, verdammt, verdammt!
Panik überwältigte ihn. So etwas hatte er noch nie gesehen. Und was er da sah, spritzte das Gift der Angst in seine Adern. Er war allein auf dem Berg, vier Kilometer von dem nächsten bewohnten Haus entfernt, und es gab nur einen Weg nach hier oben – den, den er genommen hatte.
Genau so, wie es der Mörder getan hatte …
Er fragte sich, ob es gerade erst zu dem Mord gekommen war. Mit anderen Worten:
ob der Mörder noch in
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