Schwarzer Schmetterling
der Nähe war.
Rico spähte beunruhigt über die Felsen und durch den Nebel. Er atmete zweimal tief ein und machte auf dem Absatz kehrt. Zwei Sekunden später rannte er den Weg in Richtung Saint-Martin hinunter. Noch nie war er so schnell gelaufen.
Servaz war nie sonderlich sportlich gewesen. Ehrlich gesagt, verabscheute er Sport – in all seinen Formen. Im Stadion wie im Fernsehen. Er hasste es, bei einer Sportveranstaltung zuzuschauen, genauso wie er es verabscheute, selbst Sport zu treiben. Einer der Gründe, weshalb er keinen Fernseher hatte, war der, dass dort für seinen Geschmack zu viele Sportsendungen liefen, und das zunehmend auch noch zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Früher, in den fünfzehn Jahren seiner Ehe, hatte er sich zu einem Mindestmaß an körperlicher Aktivität gezwungen, die darin bestand, dass er jeden Sonntag fünfunddreißig Minuten – keine Minute länger! – joggte. Trotzdem oder auch deshalb hatte er seit seinem achtzehnten Lebensjahr kein Kilo zugelegt, und er hatte noch immer dieselbe Hosengröße wie damals. Er wusste, wie dieses Wunder zu erklären war: Er hatte die Gene seines Vaters, der sein ganzes Leben lang schlank und schneidig wie ein Windhund geblieben war – bis auf die letzte Zeit, als er unter der Wirkung des Alkohols und der Depression beinahe zum Skelett abgemagert war.
Seit seiner Scheidung hatte Servaz jedoch alles eingestellt, was auch nur im Entferntesten körperlicher Bewegung ähnelte.
Dass er an diesem Sonntagmorgen unvermittelt beschlossen hatte, wieder damit anzufangen, lag an einer Bemerkung, die Margot tags zuvor gemacht hatte: »Papa, ich habe beschlossen, dass wir die Sommerferien zusammen verbringen werden. Zu zweit. Ganz weit weg von Toulouse.« Sie hatte ihm von Kroatien, den kleinen Buchten dort, den felsigen Inseln, den Sehenswürdigkeiten und der Sonne erzählt. Sie wollte in ihren Ferien Entspannung mit Sport verbinden: Das bedeutete morgens laufen und schwimmen, nachmittags
dolce
far niente
und die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten, und abends müsste er sie zum Tanzen ausführen oder mit ihr am Strand entlangspazieren. Alles war schon fest geplant. Anders gesagt, Servaz tat gut daran, sich fit zu machen.
So hatte er sich abgewetzte alte Shorts und ein ausgeleiertes T-Shirt angezogen, war in Turnschuhe geschlüpft und lief jetzt am Ufer der Garonne entlang. Es war trübe und ein wenig neblig. Er, der außerhalb seiner Dienstzeiten gewöhnlich vor Mittag keinen Fuß vor die Tür setzte, bemerkte, dass über der rosa Stadt eine erstaunlich friedliche Atmosphäre hing, als hätten selbst die Gauner und die Idioten an diesem Sonntagmorgen eine Auszeit genommen.
Während er gemächlich vor sich hin joggte, dachte er noch einmal über das nach, was seine Tochter gesagt hatte.
Ganz weit weg von Toulouse …
Wieso ganz weit weg von Toulouse? Er sah noch einmal ihre
triste und erschöpfte Miene,
und plötzlich überkam ihn ein ungutes Gefühl. Gab es in Toulouse irgendetwas, dem sie entfliehen wollte? Irgendetwas oder irgendjemand? Er dachte an den blauen Fleck auf ihrer Wange, und plötzlich war er ernsthaft in Sorge.
Eine Sekunde später spürte er ein Stechen in der Brust …
Er war viel zu schnell losgelaufen.
Er blieb stehen, die Hände auf den Knien, während seine Lungen brannten. Sein T-Shirt war schweißgetränkt. Servaz sah auf die Uhr. Zehn Minuten! Er hatte zehn Minuten durchgehalten! Dabei fühlte er sich, als wäre er eine halbe Stunde gelaufen!
Mann, war er vielleicht erledigt!
Kaum vierzig Jahre alt, und ich schleppe mich dahin wie ein alter Mann, jammerte er zu sich selbst, als das Telefon in der Tasche seiner Shorts vibrierte.
»Servaz«, stieß er hervor.
»Was ist los?«, fragte Cathy d’Humières. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Ich mache gerade ein bisschen Sport«, schnarrte er.
»Sie scheinen es ja nötig zu haben. Tut mir leid, dass ich Sie an einem Sonntag behellige. Aber es gibt Neuigkeiten. Es sieht so aus, als hätten Sie recht.«
»Wie das?«
»Es gibt einen Toten – in Saint-Martin. Und diesmal ist es kein Pferd.«
Ein Ruck ging durch ihn.
»Einen … Toten …?« Er rang noch immer nach Atem. »Was für einen Toten? Weiß man … wer es ist?«
»Noch nicht.«
»Hatte er keine Papiere bei sich?«
»Nein. Er war nackt – abgesehen von seinen Stiefeln und einem schwarzen Cape.«
Servaz fühlte sich, als hätte ihn ein Pferd getreten. D’Humières erzählte ihm, was sie wusste: der junge
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