Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
Vom Netzwerk:
ihn, dann wusste er, was es war. Die Reifen waren wie Bälle, aus denen die Luft entwichen war, auf den Asphalt gesackt. Sie waren zerstochen worden. Alle vier … Und die Karosserie war mit einem Schlüssel oder einem spitzen Gegenstand zerkratzt worden.
    Willkommen in Saint-Martin,
sagte er sich.

11
    S onntagmorgen im Institut Wargnier. Es herrschte eine seltsame Stille. Diane schien es, als wäre die ganze Klinik verwaist. Kein Geräusch. Sie schlug das Federbett zurück, stand auf und suchte den winzigen – und eiskalten – Waschraum auf. Eine schnelle Dusche; sie wusch sich die Haare, trocknete sie und putzte sich wegen der Kälte die Zähne so schnell wie möglich.
    Als sie wieder hinausging, warf sie einen Blick durchs Fenster. Nebel. Wie ein riesiges Gespenst, das sich im Schutz der Nacht niedergelassen hatte. Er hing über der dicken Schneedecke, verschluckte die weißen Tannen. Die Klinik verschwand im Nebel; in einer Entfernung von zehn Metern stieß der Blick gegen eine Wand aus weißem Dunst. Sie zog den Morgenrock fest um sich.
    Sie wollte nach Saint-Martin hinunterfahren und dort einen Spaziergang machen. Schnell zog sie sich an und verließ ihr Zimmer. Die Cafeteria im Erdgeschoss war bis auf den Servicemitarbeiter leer, sie bestellte einen Cappuccino und ein Croissant und setzte sich an das große Glasfenster. Sie saß kaum zwei Minuten, als ein etwa dreißigjähriger Mann im weißen Kittel den Raum betrat und sich ein Tablett nahm. Sie beobachtete ihn unauffällig dabei, wie er einen großen Milchkaffee, einen Orangensaft und zwei Croissants bestellte, dann sah sie, wie er mit seinem Tablett auf sie zukam.
    »Guten Tag, darf ich mich setzen?«
    Sie nickte lächelnd.
    »Diane Berg«, sagte sie, während sie ihm die Hand reichte, »ich bin …«
    »Ich weiß. Alex. Ich bin einer der psychiatrischen Krankenpfleger. Haben Sie sich schon eingewöhnt?«
    »Ich hab gerade erst hier angefangen …«
    »Gar nicht so einfach, oder? Als ich das erste Mal hier war und das alles gesehen habe, wäre ich um ein Haar wieder in mein Auto gestiegen und davongefahren«, sagte er lachend. »Aber wenigstens schlafe ich nicht hier.«
    »Wohnen Sie in Saint-Martin?«
    »Nein, ich wohne nicht im Tal.«
    Er hatte das gesagt, als hätte er auch nicht die geringste Lust darauf.
    »Wissen Sie, ob es im Winter in den Zimmern immer so kalt ist?«, fragte sie.
    Er sah sie lächelnd an. Er hatte ein recht angenehmes und offenes Gesicht, warme kastanienbraune Augen und Locken. Er hatte auch ein großes Muttermal mitten auf der Stirn, das wie ein drittes Auge aussah. Einen Moment lang verweilte ihr Blick unangenehm berührt auf diesem Mal, und sie errötete, als sie sah, dass er es bemerkt hatte.
    »Ja, ich befürchte es«, sagte er. »Im obersten Stockwerk zieht es ständig, und die Heizung ist ziemlich alt.«
    Hinter der großen Scheibe war die wunderschöne nebelverhangene Landschaft aus Schneeflächen und Tannen wie zum Greifen nah. Es war so seltsam, hier einen heißen Kaffee zu trinken und nur durch eine einfache Scheibe von diesem weißen Meer getrennt zu sein, dass Diane den Eindruck hatte, die Kulisse eines Kinofilms zu betrachten.
    »Was genau ist Ihre Aufgabe?«, fragte sie, entschlossen, die Gelegenheit zu ergreifen, um mehr in Erfahrung zu bringen.
    »Meinen Sie: welche Aufgaben ein Pfleger hier hat?«
    »Ja.«
    »Nun … als psychiatrischer Pfleger richtet man die Medikamente her und verteilt sie, man stellt sicher, dass die Patienten sie verschreibungsgemäß einnehmen, dass es nach der Einnahme nicht zu unerwünschten Nebenwirkungen kommt … Selbstverständlich werden die Insassen auch überwacht … Aber wir überwachen sie nicht nur einfach: Wir geben ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten, sprechen mit ihnen, beobachten sie, wir nehmen uns Zeit für sie, hören ihnen zu … Aber alles in Maßen. Als Pfleger sollte man weder allzu zugewandt noch allzu distanziert sein. Weder Gleichgültigkeit noch systematische Hilfe. Man muss Grenzen setzen. Vor allem hier. Mit diesen …«
    »Werden sehr starke Medikamente eingesetzt?«, fragte sie und versuchte, nicht mehr auf das Mal an seiner Stirn zu starren.
    Er warf ihr einen leicht argwöhnischen Blick zu.
    »Ja … Hier geht es weit über die empfohlenen Dosierungen hinaus. Das ist ein bisschen wie Hiroshima im Bordeaux-Weinglas. Man ist hier nicht zimperlich. Aber vollgepumpt werden sie auch nicht. Sehen Sie sie an: Das sind keine Zombies. Es ist nur so, dass

Weitere Kostenlose Bücher