Schwarzer Tanz
Es stand offen, der Vorhang war nass und aufgebauscht.
Sie schloss das Fenster.
Sie stand in dem Dunkel und starrte hinunter auf die Straße.
Ab und zu kam ein Auto vorbei. Ein Mann lief am Haus entlang, doch es war nicht der Mann, den sie zuvor gesehen hatte. Soweit sie das erkennen konnte, versteckte sich niemand in der Türöffnung, von den Schatten verborgen. Niemand beobachtete sie abwartend.
Sie wandte sich ab und machte eine Lampe an.
Eine Art verschlafenes Rascheln war hinter Ruths Wand zu hören.
» Hallo, Ruth.«
Ruth kam heraus.
Rachaela war verblüfft; gänzlich und beunruhigend entnervt. Ruth war in einen blauen und grünen Überwurf gehüllt, der ihre Beine und schneeweißen Schultern freiließ. Durch die Maschen des Überwurfs schimmerte weißes Fleisch. Unter dem dünnen Gewand war sie nackt. Ihr Haar wallte über ihre Schultern, die einzelnen Strähnen knisterten vor Elektrizität.
Ihr Gesicht war geschminkt, nicht laienhaft, wie zu erwarten gewesen wäre, sondern wie eine bemalte Puppe. Kohlschwarze Lider, klebrig dicke Mascara, die Lippen exakt nachgezogen und kirschrot.
Sie wirkte trunken, als hätte sie geschlafen. Und doch war sie wie aufgeladen, eine lebende Stromleitung. Sie hatte nicht geschlafen.
Rachaela fand ihre Stimme wieder. » Das Make-up von Woolworth’s?«
» Ja.« Ruths eigene Stimme war sanft. Sie klang weder verlegen noch unsicher.
» Du hast es sehr gekonnt aufgelegt.«
» Ja.«
» Was hast du gemacht?«
» Gewartet«, sagte Ruth. Natürlich hatte sie gewartet. Rachaela war im Laden aufgehalten worden und später nach Hause gekommen, als sie vorgehabt hatte.
Aber meinte Ruth das? Hatte sie auf ihre Mutter gewartet?
» Warum war das Fenster offen?«
» Um die Nacht hereinzulassen.«
Möglicherweise war das ein Satz aus einem Buch. Ruth belog Rachaela nicht, aber sie sagte auch nicht die ganze Wahrheit. Und doch war die Wahrheit irgendwie offensichtlich.
Vampir. Ruth war geschminkt wie ein Vampir, den sie möglicherweise in irgendeinem verbotenen Horrorfilm oder auf einem Bild eines Büchereibuches gesehen hatte. Sie machte ihre Sache sehr gut.
Und dann hatte sie in der Dunkelheit gelegen, nackt bis auf ihr dürftiges Schultertuch, bei geöffnetem Fenster, um die Dunkelheit einzulassen, und hatte gewartet.
Vor Rachaelas innerem Auge erschien erneut der Mann im schwarzen Umhang, der an der Hauswand hochstieg. Diesmal brannte kein sexuelles Verlangen in ihr, ihr wurde eiskalt.
War das Ruths Traum? Dracula, der Backsteine hinaufkroch, um seinen Anspruch auf sie geltend zu machen?
Sie stellte den elektrischen Kamin an, der Raum war so kalt, als hinge er voller Eiszapfen. Sie ging in die Küche, wusch ihre Hände und legte Schinkenstreifen auf den Grill.
Ruth zog sich leise hinter ihre Wand zurück.
Als sie wieder zum Vorschein kam, trug sie ihr Nachthemd und einen Morgenmantel. Sie ging ins Badezimmer, und Rachaela hörte das Klappern des Cremedosendeckels.
Als Ruth aus dem Bad kam, trug sie keine Farben mehr, bis auf ihr eigenes Schwarz und Weiß.
» Du hättest es lassen können«, sagte Rachaela.
» Ich war fertig damit.«
Rachaela briet ein Ei für Ruth.
» Ich gehe jetzt nicht mehr in die Buchhandlung«, sagte Rachaela.
» Kann ich morgen einen freien Tag haben?«
» Ja, wenn du willst. Du könntest wieder einen Fieberanfall haben.«
» Danke«, sagte Ruth.
Sie saß am Tisch und aß ein Butterbrot. Rachaela trug das Essen auf, und sie aßen.
Draußen fiel der Schnee in großen dicken Flocken.
Als sie fertig waren, stand Rachaela auf und ging zu einem der Fenster. Sie zog den Vorhang zurück und blickte auf die verlassene Straße herunter.
» Wenn du draußen unterwegs bist«, sagte Rachaela, » darfst du mit niemandem reden. Ich erinnere mich, dass Emma dir das schon gesagt hat. Es gilt immer noch.«
» Manchmal frage ich jemanden nach dem Weg.«
» Das ist in Ordnung. Aber lass dich nicht auf Unterhaltungen ein. Sprich immer nur mit Frauen, nicht mit Männern.«
» Ja, Mami.«
Rachaela schloss den Vorhang. Sie blickte auf Ruth hinunter, die gerade eine Tasse Tee trank. Sie schien ein Durchschnittskind zu sein, vielleicht ein bisschen ungewöhnlich, wundervolles Haar, sehr gelassen.
» Sprich niemals mit Männern.«
Weihnachten kam. Sie feierten es nicht, obwohl sie das mit Emma immer getan hatten. Rachaela gab Ruth drei Bücher und einige bunte Gemälde. Ruth überreichte Rachaela eines ihrer typischen Ruthgeschenke, dieses Mal eine
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