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Schwarzer Tanz

Schwarzer Tanz

Titel: Schwarzer Tanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Ruth hinterher. Abgelenkt von Erinnerungen oder aus reiner Nostalgie, wanderten Alice, Anita, Sascha und Miriam in dem Raum umher und schienen ihrerseits ein Kleid auswählen zu wollen, so wie sie das vielleicht vor langer Zeit einmal getan hatten.
    Livia blieb neben der Tür stehen. Ihr Gesicht war verzerrt. Sie wandte sich an Rachaela: » Mein Konstantin«, und presste ihre vertrockneten, alten Hände auf ihr Gesicht. Als wollte sie weinen und konnte es nicht. Ihr Seelenschmerz verebbte langsam, sie ließ die Hände sinken, ging auf ein rotes Kleid zu und glättete zärtlich die steifen, durchsichtigen Falten mit einem ihrer beringten Finger.
    Rachaela lief an einer Reihe von Kleidern vorüber.
    Ruth war stehen geblieben.
    In der Decke war ein Riss zu sehen, ein regelrechtes Loch war dort entstanden, und darunter hing ein einzelnes rotes Kleid etwas abseits von den anderen.
    Es war, wie das Schlafzimmer, ein Kleid aus Blut, entstanden in einer Periode der Heuchelei. Die Schultern der Schneiderpuppe waren unbedeckt. Die Taille des Kleides wies wie ein Richtungspfeil durch eine Reihe von rubinroten Knöpfen auf den Nabel. Der Rock war lang und fließend, bestickt mit einem glänzenden, blutigen Faden in einem seltsamen Muster, das aussah wie Trauben, Blumen und Blattwerk. Die gerüschten Ärmel fielen von den Schultern herab bis auf den Boden, und unter ihnen waren noch einmal andere Ärmel aus eng anliegender, roter Spitze verborgen.
    » Das hier«, sagte Ruth.
    » Oh, seht nur, welches sie erwählt hat!«, rief Miranda. » Wie herrlich.«
    » Wie wunderschön sie aussehen wird«, sagte Teresa. » Ich erinnere mich noch …«, und schwieg.
    All die Frauen säuselten und flüsterten, ein Chor aus Grashüpfern.
    Der Rock des Kleides bewegte sich. Er wallte nach vorn und bauschte sich auf, als hätte sich ein unsichtbares Bein darunter ausgestreckt.
    Ruth trat einen Schritt zurück.
    Sie starrte auf das Kleid.
    Alle Frauen starrten auf das Kleid.
    Und der Rock schwang erneut nach vorn, kräuselte sich.
    Was ging da vor sich? Wurde das Kleid etwa lebendig?
    » Nein, nein«, stöhnte Anna. » Nein.«
    Sie trat eiligst näher. Rachaela sah, wie sie das Kleid erreichte, den Rock ergriff und ausschüttelte.
    Plötzlich zerriss ein langer Saum in einer Wolke aus rotem Staub.
    Ein Vogel flog heraus.
    Das Kleid hatte den Vogel geboren.
    Er flog direkt an Anna vorbei und segelte über die Köpfe der alten Frauen hinweg, so dass sie vor Schreck laut aufschrien.
    Rachaela hatte die Scarabae nie zuvor so unbeherrscht erlebt.
    Der Vogel sauste von Wand zu Wand, und die Frauen kreischten schrill, wehrten ihn mit Händen ab, an denen die Ringe nur so blitzten.
    Dann schoss der Vogel plötzlich in die Höhe. Er verschwand durch das Loch in der Decke, und das aufgeregte Flattern seiner Flügel verstummte.
    » Der Dachboden«, sagte Anna und zeigte auf das Loch, durch das der Vogel entkommen war.
    » Onkel Camillo lässt das Fenster immer offen.«
    » Wird er hinausfliegen?«, schrie Unice.
    » Wird er fortfliegen?«, fragten die anderen.
    » Das ist anzunehmen«, antwortete Anna. Sie blickte auf Rachaela. » Vielleicht wird Rachaela irgendwann einmal hochgehen, um nachzusehen.«
    » Das bedeutet Unglück, ein Vogel im Haus«, jammerte Unice.
    Miranda stöhnte: » Das erste Mal seit sechzig Jahren.«
    » Still«, befahl Anna. » Der Vogel ist fort. Ruth. Hast du dieses hier ausgewählt? Es hat genau die richtige Größe.«
    » Da war ein Vogel drin«, sagte Ruth.
    Die Panik der Alten hatte sie zwar nicht befallen, dennoch wurde sie davon beeinflusst.
    » Der Vogel ist fort«, wiederholte Anna.
    » Jetzt will ich es nicht mehr«, sagte Ruth.
    Die alten Frauen schwebten auf sie zu, als würden sie von ihr angezogen wie Eisenspäne von einem Magneten. Sie flüsterten, doch man konnte ihre Worte nicht verstehen.
    » Such dir ein anderes aus«, sagte Anna.
    » Aber ich wollte doch das hier.«
    » Dann vergiss den Vogel.« Anna lächelte geduldig.
    » Nein«, sagte Ruth.
    Anna breitete die Arme aus und wartete.
    Sie alle warteten auf die Kindfrau, die ihre Zukunft bedeutete.
    Ruth stand mit zur Seite geneigtem Kopf vor der Puppe.
    Schließlich stimmte sie zu: » In Ordnung. Dieses hier. Aber der Saum ist aufgerissen.«
    Alice sagte: » Ich werde alle Säume noch einmal nachnähen. Und Cheta wird das Kleid sehr sorgfältig reinigen. Besonders die Spitze. Spitze ist so äußerst kleidsam.«
    Ruth fragte: » Und was ist mit dem Schleier? Bekomme

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