Schwarzer Tod
gewesen. So zärtlich Marcus auch gewesen war, manchmal hatte er sie gewollt, und sie hatte keine Lust gehabt, sich hinzugeben. Und bei einigen dieser Gelegenheiten hatte er ihre Weigerung einfach nicht akzeptiert. Er hatte sie zwar niemals vergewaltigt, sie aber hartnäckig belagert, bis er endlich bekommen hatte, was er wollte. Und das war im wesentlichen genau das, was jetzt Sturmbannführer Schörner versuchte - oder was er vielmehr in drei Tagen versuchen würde.
Schörner war ziemlich geradeheraus und alles andere als häßlich. Und was für unmenschliche Verbrechen er im Namen Deutschlands auch immer begangen haben mochte, er selbst schien dennoch eine Art persönlichen Ehrenkodex zu besitzen. Wie schwierig konnte es für ihn sein, ihr zu helfen? Wenn er im richtigen Moment den kleinen Finger hob, dann würde er das Leben ihrer Kinder retten.
Dieser Gedanke gab Rachel eine Weile Kraft; doch am Nachmittag des vierten Tages begriff sie, wie weit ihre Denkweise bereits pervertiert war. Marcus mochte sie gelegentlich gezwungen haben, aber hatte sie ihm nicht ewige Treue gelobt? Hatte sie ihm nicht tausendmal ihre Liebe geschworen? Ein paar Nächte der Verwirrung und der Wut sollten die Jahre der Freundlichkeit und Unterstützung aufwiegen, als wären sie nichts? Rachel war hier eine Gefangene. Wolfgang Schörner war ihr Wächter. Er war einer aus der Legion, die ihren Ehemann und Tausende, vielleicht sogar Millionen ihres Volkes abgeschlachtet hatten.
Schörner war ein Mörder.
Rachel dachte gerade darüber nach, als die Zigeunerin schließlich überschnappte. In den letzten Tagen seit ihrem Selbstmordversuch hatten die Frauen im Zigeunerblock sie auf ihrer Pritsche festgebunden, außer beim Appell. Aber heute hatte man ihr erlaubt, die Baracke zu verlassen, weil sie sieben Stunden lang absolut bewegungslos in ihrer Koje gelegen hatte.
Ein Blick auf Klaus Brandt genügte, und es war um ihre Beherrschung geschehen.
Rachel stand allein an der Kommandantur, als sie sah, wie Brandt aus dem Krankenhaus trat. Sein weißer Doktorkittel flatterte wie eine strahlende Flagge auf einem grauen Meer. Beinahe sofort stürmte ein Lumpenbündel vom Blockzaun auf ihn zu. Es war die Zigeunerin. Sie rannte lautlos und wedelte heftig mit den Armen, während sie den Blick starr auf den ahnungslosen Arzt gerichtet hielt.
Ein Maschinengewehrschütze auf dem Turm sah sie zuerst. Wenn man im Lager lief, forderte man eine sofortige Exekution geradezu heraus. Der Schütze rief eine Warnung hinunter und packte dann mit beiden Händen das Maschinengewehr. Rachel wartete auf das Rattern, welches das Leben der Zigeunerin beenden würde, doch ein anderer Deutscher rief dem Schützen zu, nicht zu feuern. Es war einer von Sturms Hundeführern, der am Zaun der Fabrik patrouillierte. Rachel beobachtete entsetzt, wie der Wächter die Leine aushakte, »Jud!« rief und klatschte in die Hände.
Etwas Entsetzlicheres hatte Rachel noch nie gesehen. Der Hund fegte weit schneller über den Schnee als die Zigeunerin. Sein Kläffen riß Brandt aus seinen Gedanken. Der korpulente Arzt riß den Kopf hoch und starrte die Frau an, die sich ihm näherte und Worte schrie, die niemand im Lager verstehen konnte.
Der Schäferhund sprang, als die Frau noch zehn Meter von Brandt entfernt war und warf sie mit dem Gesicht nach vorn in den Schnee. Innerhalb von Sekunden beteiligte sich noch ein weiterer Hund an dem Angriff. Wie alle anderen auf dem Platz auch, stand Rachel wie angewurzelt da. Als sie mitansehen mußte, wie die Hunde die Frau brutal anfielen, verstand sie zum ersten Mal den Drang der Menschen, wilde Tiere aufzuspüren und zu erlegen. Dieses Verlangen mußte eine Art Versicherung sein, daß so etwas Schreckliches ihnen nie wieder zustoßen konnte, dieses Entsetzliche, was ihren primitiven Vorfahren unzählige Male wiederfahren sein mußte.
Als ein dritter Hund sich in den Tumult mischte, drehte sich Rachel um und lief in ihre Baracke zurück, wo Frau Hagan auf die Kinder aufpaßte. Sie wollte nicht, daß Jan und Hannah zufällig herauskamen und nachsahen, was es mit dem Lärm auf sich hatte. Sie hörte, wie jemand auf deutsch befahl, die Hunde zurückzuhalten. Vielleicht war es sogar Brandt selbst, aber das spielte eigentlich keine Rolle mehr.
Niemand konnte dieses Gemetzel überleben, das sie gerade gesehen hatte.
Anna Kaas beugte sich über die Zigeunerin und arbeitete mit fliegenden Händen, obwohl sie kaum eine Chance hatte. Die Hundezähne
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