Schwarzer Tod
nachdem er Anna Kaas' Hof verlassen hatte, stand er unter dem hohen Strommast, an dem die Gaskanister hingen.
Im Schatten der beiden Stützmasten starrte er durch die Blätter nach oben. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch schließlich erkannte er die Silhouetten der Stahlkanister. Sie hingen fein säuberlich in einer Reihe an einem äußeren Stromkabel. Plötzlich wurde ihm schwindlig, als er sah, wie die Tanks in den Baumwipfeln schwankten. Selbst ohne den tragbaren Windmesser war er sicher, daß der Wind, der diese Kanister bewegte, eine höhere Geschwindigkeit besaß, als für den Angriff ideal gewesen wäre.
Stern stampfte auf den Schnee um das Fundament des Stützmastes direkt neben ihm. Unter seinen Füßen war eine Kiste vergraben, in der sich der Windmesser, das Notfunkgerät und die U-Boot-Signallampe sowie die Kletterausrüstung befanden, mit der er zur Spitze des Mastes klettern sollte. Innerhalb von fünf Minuten konnte er den Nervengasangriff auf Totenhausen starten. Der starke Wind würde vielleicht die Wirkung des Gases schmälern; aber wenn das britische Gas denn funktionierte, würde es dennoch einige SS-Männer töten. Würde er allerdings noch eine Weile warten, würde der Wind vielleicht doch noch abflauen.
Während er dort im Schnee stand und das Summen der Transformatoren in seinen Ohren hallte, fühlte er, wie noch etwas Stärkeres als der Haß auf die Nazis in ihm aufwallte. Etwas, was er weder McConnell noch der Krankenschwester oder sonst irgend jemandem eingestehen würde. Etwas, das er sich selbst kaum eingestehen konnte. Der Besuch in Rostock hatte es wieder aufgewühlt, und je länger er hier stand, desto mächtiger wurde dieses Gefühl, bis Stern sich schließlich zu seiner eigenen Überraschung wieder bewegte. Er ging den Hügel hinunter, weg von dem Kraftwerk, und weg von den Kanistern.
Er ging zum Lager Totenhausen.
31
»Glauben Sie, daß er es diesmal tut?« fragte Anna.
McConnell saß ihr am Küchentisch gegenüber, und zwei Becher mit Kaffee-Ersatz aus Gerste standen zwischen ihnen. Die schwarze Brühe schmeckte entsetzlich, war aber wenigstens heiß.
»Wenn er es lebendig den Hügel hinauf schafft, wahrscheinlich. Glauben Sie wirklich, daß er es tun sollte?«
»Irgend jemand muß doch irgend etwas tun«, antwortete Anna. »Ich weiß nicht, ob es richtig ist, die Gefangenen zu töten, aber in einem Punkt hat Stern recht.«
»In welchem?«
»Alle im Lager sind dem Tode geweiht, ganz gleich, was wir tun. Sie würden den Krieg niemals überleben.«
»Glauben Sie, daß es stimmt, was er sagt? Glauben Sie, daß ich ein Feigling bin, weil ich ihm nicht helfe?«
Anna blickte in ihren Becher. »Die Menschen sind verschieden. Was er Mut nennt, ist für Sie Dummheit. Was Sie unter Courage verstehen, bezeichnet er als Schwäche. Einige Menschen sind für den Krieg einfach nicht geschaffen, glaube ich. Und das ist auch gut so.« Sie sah ihn an. »Wer hat Sie für diesen Auftrag ausgesucht? Es ergibt irgendwie keinen Sinn für mich.«
»Man hat mir gesagt, ich wäre ausgesucht worden, weil ich kein Brite, dafür aber Giftgasexperte sei. Ich vermute, dahinter steckt die Idee, daß Stern und ich zusammen einen perfekten Soldaten ergeben. Ein Killer mit dem Gehirn eines Wissenschaftlers. Was ist mit Ihnen? Sind Sie eine zivile Krankenschwester?«
»Ja. Angeblich gab es eine Personalknappheit im medizinischen Korps, aber ich glaube, Brandt zieht einfach Zivilisten vor.«
»Ich bin auch Zivilist.«
Sie nickte. »Ein Chemiker, richtig?«
McConnell lachte. »Nur durch Berufung. Eigentlich bin ich ein Doktor der Medizin.«
Annas Miene veränderte sich kaum merklich. Sie schien McConnell plötzlich mit anderen Augen zu betrachten. »Sie sind Arzt?«
»Ja. Jedenfalls war ich das vor dem Krieg.«
»Hatten Sie eine Praxis?«
»Kurz.«
Anna saß eine Weile einfach nur schweigend da und dachte über diese neue Information nach. »Ist das der Grund, warum Sie sich so hartnäckig weigern zu töten?« fragte sie schließlich.
»Teilweise, denke ich«, antwortete McConnell ausweichend.
»Das ist auch mit der Grund für das, was ich tue.«
»Wie meinen Sie das?«
Anna sah aus dem Küchenfenster. »Es ist sehr gefährlich für Sie, hier zu sein. Schörner läßt vielleicht alle Häuser einzeln durchsuchen.«
»Soll ich lieber in den Keller gehen?«
Anna stand auf, füllte die beiden Becher wieder auf und nahm die halbleere
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