Schwarzer Tod
Hoffnung genommen. David war tot. Kaum vorzustellen, daß General Smith tatsächlich glaubte, daß Davids Tod Marks Haß auf den Krieg auslöschen könnte.
Diesmal überkam ihn die Trauer ohne Vorwarnung. Sein Bruder war tot; sein Vater war tot, und er war der letzte männliche McConnell. Zum ersten Mal, seit er in England war, verspürte er das beinahe unwiderstehliche Bedürfnis, nach Hause zurückzukehren. Nach Georgia. Zu seiner Mutter. Und zu seiner Frau. Bei dem Gedanken an seine Mutter schauderte er abermals. Wie sollte er es ihr beibringen? Was sollte er sagen?
Beim letzten Tritt gegen den Fensterrahmen öffnete sich der eiserne Fensterflügel, und ein eiskalter Wind schlug Mark ins Gesicht. Langsam ließ der Druck im Hals nach. Er konnte wieder atmen. Die verschneite Landschaft vor seinen Augen wirkte wie aus einer Zeit vor 100 Jahren. Die Universität von Oxford. Seine Insel der Ruhe in einer verrücktgewordenen Welt. Was für ein erbärmlicher Witz. Er ließ das Telegramm aus den Fingern gleiten und beobachtete, wie es über das Fensterbrett rutschte und schließlich in den gepflasterten Hof drei Stockwerke tiefer segelte.
Das erste Geräusch, das er ausstieß, war ein gepeinigtes Heulen, das aus den tiefsten Winkeln seiner Seele zu kommen schien. Fenster wurden geöffnet, in denen weiße Gesichter auftauchten, auf denen die Neugier deutlich zu erkennen war. Irgendwo spielte ein Grammophon Bing Crosbys >F11 Be Seeing You.< Als die zweite Strophe über den Platz hallte, waren die Tränen auf Marks Wangen festgefroren.
Er war allein.
10
»Ihr Tonband hat angehalten«, bemerkte Rabbi Leibowitz.
»Was?«
Der alte Mann deutete mit einem langen Finger auf das Diktiergerät auf dem Tisch neben seinem Stuhl. Ich blinzelte, unfähig die Vision abzuschütteln, wie mein Großvater an diesem Fenster in Oxford stand, oder meine Gedanken an meinen Großonkel zu verscheuchen, den ich niemals kennengelernt hatte.
»Sie brauchen ein neues Band«, sagte Leibowitz. »Und ich brauche noch einen Brandy. Reichen Sie mir bitte die Flasche.«
Ich kam seinem Wunsch nach. Der Rabbi warf mir einen kurzen, scharfen Seitenblick zu, während er die bernsteinfarbene Flüssigkeit ins Glas rinnen ließ. »Also, Doktor, was halten Sie davon?«
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, erwiderte ich mit einem Achselzucken.
»Klingt das nach Ihrem Großvater? Klingt das wahr?«
Ich dachte über die Frage nach, während ich eine neue Kassette in den Rekorder schob. »Vermutlich«, antwortet ich schließlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er seine Prinzipien über den Haufen geworfen hätte, nur um Rache zu nehmen.«
»Sind Sie sich da so sicher, Mark?«
Ich musterte das verwitterte Gesicht des Rabbi. »Wahrscheinlich muß ich warten, bis Sie es mir sagen, stimmt's? Es ist wirklich eine Geschichte. Aber die Einzelheiten ... Woher kennen Sie die?«
Ein Lächeln huschte über Leibowitz' Gesicht. »Von sehr langen Nachmittagen mit Mac in meinem Büro. Aus Briefen anderer Personen, die darin verwickelt waren. Sobald ich seine Geschichte gehört hatte, war ich ... Sie hat mich eine Weile beschäftigt.«
»Und was ist mit dem Mädchen?« fragte ich und bückte mich. »Die Frau auf diesem Foto? Welche Rolle spielt sie in der Geschichte? Ist sie die Frau, die Brigadegeneral Smith diese merkwürdige Nachricht geschickt hat? Was hatte es damit überhaupt auf sich?«
Rabbi Leibowitz nippte an seinem Brandy. »Geduld. Zu dem Mädchen komme ich schon noch. Sie wollen alles in einer Stunde schön verpackt serviert bekommen wie in einem netten Fernsehfilm.« Der alte Mann neigte den Kopf und lauschte den endlosen Geräuschen in der feuchten Dunkelheit vor dem Haus. »Es wird Zeit, unsere Aufmerksamkeit für eine Weile zu verlagern. All dies ist schließlich nicht in einem Vakuum geschehen, wissen Sie? Andere Menschen haben ihre eigenen Ziele verfolgt, ohne sich um Brigadegeneral Smith in London zu kümmern. Einige sehr böse Menschen. Ich würde sagen Monster, wenn Sie keine Einwände gegen das Wort haben.«
Ich sah, wie der Blick des Rabbi ruhelos durchs Arbeitszimmer meines Großvaters streifte. Anscheinend kam er jetzt zu einem Teil der Geschichte, der ihm nicht sonderlich behagte. »Und wohin verlagern wir unsere Aufmerksamkeit?« fragte ich in dem Versuch, ihn ein bißchen zu drängen.
»Was?« fragte er und sah mich wieder an.
»Wohin?« fragte ich. »Ich nehme an, Sie meinen nach Deutschland, habe ich
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