Schwarzes Blut: Thriller (German Edition)
starrte sie mit großen Augen an. Nach einer Weile hatte sie sich so weit in der Gewalt, dass sie eine Hand auf seine Schulter legen konnte.
»Ich hab dich lieb, Timmy.«
»Ich dich auch, Skye«, sagte er. Beim Anblick seiner großen unschuldigen Augen hätte sie beinahe losgeheult.
Sie wusch sich das Gesicht, verbarg die Tränen in den Wassertropfen, trocknete sich ab und maskierte ihren Schmerz mit einem künstlichen Lächeln, als sie Timmys Hand nahm. »Komm mit. Jetzt kriegst du einen Eisbecher mit warmer Schokosoße und allem Drum und Dran.«
Gemeinsam hatten sie die Toilette verlassen. In diesem Augenblick wusste Skye, dass sie nie wieder mit ihm alleine sein durfte.
Niemals.
»Skye, Schätzchen, hörst du mich?«, fragte Minty und rüttelte an ihrer Hand.
Als Skye die Augen öffnete, sah sie nicht die Kellnerin, sondern Sheriff Dellbert Drum vor sich. Er hatte die ausgestreckten Arme auf die Rückenlehne gelegt und äffte dadurch die Pose des Samtjesus nach. In seinen kleinen Schweinsäuglein lag allerdings kein Schmerz, sondern nur dumpfe Bosheit.
»Skye? Skye!« Minty umklammerte ihren Arm.
Skye stand auf. »Minty, kann ich mir mal dein Auto ausleihen?«
Minty drückte Skye die Schlüssel in die Hand. »Auf in den Kampf, Kleines. Nimm dir, was dir zusteht.«
Skye verließ das Diner. Die Erinnerung an Dellbert Drums ranzigen Schweißgeruch stieg ihr in die Nase. Vor ihrem inneren Auge sah sie den unnatürlich großen Mann vor sich. Sah, dass seine gewaltigen Glieder vom Körper gerissen waren. Sah, wie sich seine meilenlangen Eingeweide in ihren Händen schlängelten.
Auf dem Weg zu Mintys Auto nahm sie den Rosenkranz vom Hals und warf ihn in eine Mülltonne.
37
Gene fuhr durch das weite Ödland, das seine und Drums Stadt voneinander trennte. Ein Heiligenschein aus Licht schimmerte über dem ausgedehnten Ghetto jenseits der Grenze. Timmy saß neben Gene. Die Anwesenheit des blutenden Riesen hatte ihn so sehr eingeschüchtert, dass er keinen Ton herausbrachte.
»Hey, Kleiner.«
Drum beugte sich vor und flüsterte heiser. Eine blutverkrustete Hand legte sich neben Timmys Kopf auf den Sitz. Der Junge wich davor zurück und kauerte sich vor der Beifahrertür zusammen.
»Wie heißt du, mein Junge?«
»Halt’s Maul«, sagte Gene.
»Ich will doch nur ein paar Takte mit dem kleinen Mann reden, okay?«
Drum beugte sich noch weiter vor. »Er sieht dir überhaupt nicht ähnlich, Martindale. Der Junge kommt wohl ganz nach seiner toten Mutter.«
»Halt’s Maul, hab ich gesagt.«
Als das Town Car über ein Schlagloch fuhr, verwandelte sich Drums verächtliches Lachen in ein Stöhnen, und er ließ sich wieder zurückfallen. Gene nahm eine Hand vom Lenkrad und legte sie auf Timmys Schulter. Der Junge zitterte, und in diesem Augenblick ließ die Sehnsucht nach seiner verstorbenen Frau Genes Herz schwer werden.
Marybeth war so lebhaft, so emotional gewesen, war ebenso schnell in Gelächter wie in Tränen ausgebrochen. Sie hatte Timmy abgöttisch geliebt, hatte ihn umarmt, ihm Lieder vorgesungen und sich mit ihm in einer Sprache unterhalten, die Gene nicht verstehen konnte, die bei Mutter und Kind jedoch regelmäßig Kicheranfälle hervorgerufen hatte.
Es hatte Gene nicht überrascht, dass er sich in eine Frau verliebt hatte, die so völlig anders war als er. Erstaunt hatte ihn dagegen die Tatsache, dass Marybeth seine Gefühle erwidert hatte, als könnte sie durch seine kühle, distanzierte Fassade hindurchsehen – in der Gewissheit, dass es nur Geduld brauchte, bis ihre Wärme ihn auftaute. Manchmal, während sie mit ihrem zweiten Kind schwanger gewesen war, hatte Gene mit seiner Hand auf ihrem prallen Bauch neben ihr auf dem Bett gelegen. Da hatte er ein inneres Tauwetter gespürt – als ob er tatsächlich wieder vertrauen und lachen und lieben könnte, so wie es auch seine wunderschöne Frau tat.
Das alles hatte in einem Blutbad am Straßenrand sein Ende gefunden. Gene hatte sich noch tiefer in sich selbst zurückgezogen, so wenig Gefühle wie möglich zugelassen. Er liebte seinen Jungen, musste sich jedoch fragen, ob dieser das auch wusste. Schließlich hatte er es Skye überlassen, seinem Jungen etwas von der Liebe zurückzugeben, die mit Marybeth gestorben war.
Und jetzt hatte Timmy auch noch Skye verloren.
Gene fuhr im Schneckentempo über die heruntergekommene Hauptstraße, die durch Drums Stadt führte. Vorbei an verfallenen Gebäuden, eingeworfenen Fensterscheiben und einer einsamen
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