Schwarzes Echo
Beerdigung wärst.«
»Stimmt irgendwas nicht?«
»Was meinst du?«
»Was ich gesagt habe. Wie du redest. Seit gestern abend wirkst du so anders. Als wenn irgendwas … ich weiß nicht, vergiß es.«
»Ich weiß es auch nicht, Harry. Ich glaube, als die Anspannung nachließ, habe ich irgendwie Angst bekommen. Ich bin ins Grübeln gekommen.«
Bosch nickte, sagte aber nichts. Seine Gedanken schweiften ab, und er erinnerte sich, wie eine Einheit im Dreieck von Vietnam, Laos und Kambodscha schwere Verluste durch Heckenschützen hatte hinnehmen müssen und auf den Eingang zu einem Tunnelsystem gestoßen war. Bosch, Meadows und zwei weitere Ratten namens Jarvis und Hanrahan wurden in einer nahegelegenen Landezone abgesetzt und zum Loch eskortiert. Als erstes ließen sie zwei Fackeln hineinfallen, eine blaue und eine rote, und drückten den Rauch mit einem Ventilator hinein, um die anderen Eingänge im Dschungel zu finden. Ziemlich bald stiegen im Umkreis von zweihundert Metern an zwei Dutzend Stellen Rauchschwaden auf. Der Rauch trat aus den Spinnenlöchern, in denen die Heckenschützen saßen. Es gab so viele davon, daß sich der Dschungel vom Rauch ganz rot färbte. Meadows war zugedröhnt. Er schob eine Cassette in den tragbaren Recorder, den er immer bei sich hatte, und fing an, den Tunnel mit Hendrix’s »Purple Haze« zu beschallen. Es war – abgesehen von seinen Träumen – eine der lebhaftesten Erinnerungen an den Krieg.
Rock hatte er danach nie mehr gemocht. Die aufrüttelnde Energie der Musik erinnerte ihn zu sehr an den Krieg.
»Bist du jemals am Ehrenmal gewesen?« fragte Eleanor.
Sie mußte nicht sagen, welches. Es gab nur das eine in Washington. Aber dann erinnerte er sich an die lange, schwarze Kopie, deren Errichtung er auf dem Friedhof beim Federal Building beobachtet hatte.
»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Ich war noch nie da.«
Nachdem sich die Luft über dem Dschungel geklärt hatte und die Hendrix-Cassette zu Ende war, hatten sich die vier in den Tunnel hinabgelassen, während der Rest der Einheit auf Rucksäcken saß und futterte und wartete. Eine Stunde später waren nur Bosch und Meadows zurückgekommen. Meadows hatte drei nordvietnamesische Skalps bei sich. Er hielt sie für die Truppe hoch und rief: »Vor euch steht der schwärzeste Blutsbruder des schwarzen Echos.« Daher der Name. Später fanden sie Jarvis und Hanrahan in den Tunneln. Sie waren in Punji-Fallen gelaufen. Sie waren tot.
Eleanor sagte: »Ich war da, als ich in D. C. gewohnt habe. Ich hatte es nicht fertiggebracht, zweiundachtzig zur Einweihung zu gehen. Aber einige Jahre später habe ich irgendwann meinen ganzen Mut zusammengenommen. Ich wollte den Namen meines Bruders sehen. Ich dachte, es würde mir vielleicht helfen, ein paar Dinge zu klären.«
»Und hat es das?«
»Nein. Es hat alles nur noch schlimmer gemacht. Ich habe diesen Zwang zur Gerechtigkeit bekommen, falls das einen Sinn macht. Ich wollte Gerechtigkeit für meinen Bruder.«
Wieder herrschte Stille im Wagen, und Bosch schenkte sich Kaffee nach. Er spürte, wie das Koffeinzittern einsetzte, aber er konnte nicht aufhören. Er war süchtig. Er beobachtete, wie zwei Betrunkene die Straße hinuntertaumelten und an der Scheibe vor dem Tresor stehenblieben. Einer der beiden warf seine Hände in die Luft, als wollte er die mächtige Tür des Tresors ausmessen. Nach einer Weile gingen sie weiter. Er dachte an die Wut, die Eleanor wegen ihres Bruders empfunden haben mußte. Die Hilflosigkeit. Er dachte an seine eigene Wut. Er kannte diese Gefühle, vielleicht nicht im selben Maße, aber aus einer anderen Perspektive. Jeder, der mit dem Krieg zu tun hatte, kannte diese Gefühle mehr oder weniger. Er hatte sie nie ganz in den Griff bekommen und war auch nicht sicher, ob er es wollte. Wut und Trauer gaben ihm etwas, das besser war als diese absolute Leere. Ob Meadows sie auch empfunden hatte? fragte er sich. Diese Leere. Hatte sie ihn von Job zu Job und von Nadel zu Nadel getrieben, bis er sich bei seiner letzten Mission endlich und endgültig verausgabt hatte? Bosch beschloß, zu Meadows’ Beerdigung zu gehen. Das war er ihm schuldig.
»Weißt du noch, was du mir neulich über diesen Typen erzählt hast, den Dollmaker-Killer?«
»Was ist mit ihm?«
»Das IAD hat versucht, dir nachzuweisen, daß du ihn exekutiert hast?«
»Ja, hab’ ich doch erzählt. Sie haben es versucht. Aber da war nichts zu machen. Sie konnten mich nur wegen Verstoßes gegen die
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