Schwarzes Echo
die Mauer, deren Enden in der Dunkelheit verschwanden. Er sah nach seinen Zigaretten und merkte, daß er fast noch eine ganze Schachtel hatte. Er hatte geahnt, daß es so werden würde. Jeden Namen mußte er lesen. Er hatte es vorher gewußt. Er steckte sich eine Zigarette an und richtete seine Lampe auf die erste Tafel der Mauer.
Erst nach vier Stunden sah er einen Namen, den er kannte. Nicht Michael Scarletti. Es war Darius Coleman, ein Junge aus der Ersten Division. Coleman war der erste Gefallene, den Bosch gekannt, tatsächlich gekannt hatte. Alle nannten ihn nur Cake. Mit einem Messer hatte er sich den Namen Cake selbst in den Unterarm tätowiert. Er wurde von seinen eigenen Leuten getötet, weil ein zweiundzwanzigjähriger Lieutenant die falschen Koordinaten für einen Luftangriff angegeben hatte.
Bosch trat an die Mauer und fuhr mit den Fingern über die Buchstaben des Namens. Im Fernsehen und im Kino hatte er gesehen, wie Leute das taten. Er stellte sich Cake vor, mit einem Joint hinter dem Ohr, wie er auf seinem Rucksack saß und Schokoladenkuchen aus der Dose aß. Ständig tauschte er anderen den Kuchen ab. Die Joints waren der Grund für seinen Heißhunger auf Schokolade.
Danach ging Harry die anderen Namen durch, hielt nur an, um sich eine Zigarette anzuzünden. Irgendwann hatte er keine mehr. In fast vier weiteren Stunden war er auf drei Dutzend Namen von Soldaten gestoßen, die er kannte und von denen er wußte, daß sie tot waren. Keiner der Namen überraschte ihn, und von daher war seine Sorge unbegründet gewesen. Aber seine Verzweiflung rührte von etwas anderem her. Das kleine Bild eines Mannes in Uniform steckte in einem dünnen Spalt zwischen den Tafeln aus Marmorimitat. Der Mann zeigte der Welt sein breites, stolzes Lächeln. Jetzt war er nur noch ein Name an der Wand. Bosch hielt das Foto in der Hand und drehte es um. Dort stand: »George, wir vermissen Dein Lächeln. Alle Liebe dieser Welt, Mom und Teri.«
Vorsichtig steckte Bosch das Bild in den Spalt zurück und fühlte sich wie ein Eindringling. Er dachte an George, diesen Mann, den er nie gekannt hatte, und wurde ohne bestimmten Grund traurig. Einige Zeit später suchte er weiter.
Am Ende, nach 58132 Namen, gab es einen, den er nicht hatte finden können. Michael Scarletti. Genau, wie er es vermutet hatte. Bosch sah zum Himmel auf. Im Osten färbte er sich orange, und Bosch spürte eine leichte Brise aus Nordwest. Im Süden ragte das Federal Building über den Baumreihen auf wie ein riesenhafter, finsterer Grabstein. Bosch wußte nicht weiter. Er wußte nicht, wieso er hier war oder ob das, was er herausgefunden hatte, überhaupt von Bedeutung war. Lebte Michael Scarletti noch? Hatte er jemals existiert? Was Eleanor über ihre Reise zum Ehrenmal erzählt hatte, war ihm so real und wahrhaftig vorgekommen. Wie sollte das alles einen Sinn machen? Das Licht der Taschenlampe wurde schwach. Er machte sie aus.
Bosch schlief zwei Stunden im Wagen auf dem Friedhof. Als er aufwachte, stand die Sonne hoch am Himmel, und erst jetzt fiel ihm auf, daß der Friedhofsrasen von Fahnen übersät war, denn an jedem Grab steckte eine amerikanische Flagge aus Plastik an einem hölzernen Stab. Er ließ den Wagen an und fuhr über die schmalen Friedhofsstraßen zu der Stelle, an der Meadows beerdigt werden sollte.
Sie war nicht schwer zu finden. An einem der Wege, die sich in den nordöstlichen Teil des Friedhofs schlängelten, parkten vier Lkws mit Antennen. Daneben hatten sich noch andere Autos versammelt. Die Medien. Fernsehkameras und Reporter hatte Bosch nicht erwartet. Aber als er die Menge sah, fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, daß Feiertage für die Nachrichten nicht besonders ergiebig waren. Und der »Tunnelraub«, wie er in den Medien genannt wurde, war nach wie vor ein heißes Eisen. Die Videovampire brauchten neue Bilder für die Abendnachrichten.
Er beschloß, im Wagen zu bleiben, und beobachtete, wie die kurze Zeremonie an Meadows’ grauem Sarg in vierfacher Ausfertigung gefilmt wurde. Sie wurde geleitet von einem zerzausten Priester, der wahrscheinlich zu einer Mission in der Innenstadt gehörte. Es waren keine richtigen Trauergäste da, abgesehen von ein paar Profis von der Veteranenvereinigung. Eine dreiköpfige Ehrengarde stand stramm.
Als es vorbei war, drückte der Priester mit dem Fuß auf ein Pedal, und der Sarg sank langsam in die Tiefe. Die Kameras gingen nah heran. Hinterher strebten die Teams in verschiedene
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