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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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schwarz auf weiß zu lesen, das waren zwei ganz verschiedene Dinge. Auch wenn Kajetan die Namen seiner ersten Frau und des Kindes verwechselt hatte, es nicht der Gefängnisdirektor war, den er als Gefangenen zufällig in Workuta traf, sondern der Untersuchungsführer – im Grunde war es doch seine Geschichte und keine andere. Die Nazis mussten nicht einmal etwas dazudichten. Jedes Detail sprach für sich. Die Erfinder von Buchenwald ergötzten sich an der Unmenschlichkeit der Schöpfer von Workuta, wie die anderen nicht genug kriegen konnten von den Schilderungen der Genickschussanlage und des Krematoriums auf dem Ettersberg. Der eine lieferte das Alibi für den anderen.
    Er starrte noch eine Zeitlang auf die Seiten. Dann kehrten seine Gedanken in die Gegenwart zurück. In Kadens Augen glaubte er, etwas zu erkennen, das ihm nicht gefiel. Langsam ging ihm ein Licht auf: Die denken doch nicht etwa, ich hätte etwas mit diesem Wisch zu tun? Dass ich mit den Nazis irgendwie …? Er fixierte sein Gegenüber, doch dessen Gesicht blieb starr wie eine Maske.
    «Kajetan Klug hat das nie und nimmer selbst geschrieben.»
    Er schüttelte demonstrativ den Kopf.
    «Na bitte, hier steht es ja, auf dem Umschlag, im Kleingedruckten: Aufgezeichnet von Kurt Neuscheler, Korrespondent des ‹Völkischen Beobachters›. Das klärt einiges. Der hat den Kajetan ausgepresst und dann mit Hilfe eigener Zutaten ein Gebräu nach Art der Nazis fabriziert. Wer weiß, womit sie Kajetan gedroht haben. Der kam ja gerade aus der Hölle.»
    «Der kam aus der Sowjetunion.» Lange Pause. «Und versteh mich bitte nicht falsch, aber es ist nicht gut, in diesem Zusammenhang genannt zu werden.»
    «Du glaubst doch nicht, dass ich etwas damit zu tun habe?»
    «Nein, sicher nicht. Aber du musst verstehen …»
    «Weißt du, ich denke, ich weiß, worauf du hinauswillst: Du, die Partei, ihr wollt erst einmal sehen, wer da überhaupt mit euch spricht. Gut, was schlägst du vor? Was soll ich tun, um zu beweisen, dass ich der richtige Mann bin?»
    «Weißt du, erst der Krieg, dann der Wiederaufbau, das Leben hier hat sich grundsätzlich verändert. Du musst dich erst einmal orientieren. Wie wäre es, wenn du fürs Erste in die Ausbildung gehst? Junge Menschen um dich herum, du verstehst schon. Sagen wir als Lehrmeister. Und während du dich umsiehst, haben wir sicherlich etwas anderes für dich. Ausbildung von Schlossern, zum Beispiel in Stalinstadt?»
    «Stalinstadt? Du wirst verstehen, Genosse Kaden», Lorenz schob den Oberkörper nach vorn, als hätte er dem ZK-Mann etwas Vertrauensvolles zu sagen, «mit Stalin habe ich es nicht so sehr.»
    «Gut, gut, das verstehe ich. Wir haben ja auch unsere Lektion hinter uns. Aber was sonst? Wir haben da eine Zeitung in Erfurt, ein Parteiorgan, versteht sich, die suchen einen Verlagsleiter. Wäre das nichts? Du sagst doch, du hast Journalistik studiert?»
    «Verlagsleiter? Anzeigen, Papier bestellen, Löhne auszahlen – ich glaube, das ist mir zu weit weg vom Leben. Ich möchte zupacken, das Land verändern helfen. Du sagst Erfurt? Liegt das nicht in Thüringen? Das wäre gar nicht schlecht. Thüringer Wald. Das klingt nach Grün, viel Grün. Ich mag Grün. Sogar sehr. Weißt du, das viele Weiß all die Jahre da oben bekommt dem Menschen nicht so. Liegt da nicht Gotha? Da war ich schon einmal. Auf der Walz. Wir waren ein ganzer Trupp aus dem Ruhrgebiet, ordentlich ausgebildet. Sie haben uns dennoch abgewiesen. Wie hieß die Firma gleich? Lowa, glaube ich. Haben große Sachen gemacht, damals. Sogar Flugzeuge. Vielleicht haben sie ja heute etwas Passendes für mich? Gotha, da würde ich hingehen. Vor allem will ich wissen, wie es den Menschen geht. Unten.»
    Das erste Mal in diesem Gespräch hatte Lorenz das Gefühl, endlich zum Kern vorzudringen; er verstand, sie wollten ihn hier in Berlin nicht. Sie wollten lieber unter sich bleiben. Ein «Ehemaliger» passte nicht dazu. Eigentlich wusste er das schon lange.
    Kaden erstrahlte:
    «Thüringen statt Berlin. Das ist gut. Auch wenn es Thüringen nicht mehr gibt, aufgelöst vor Jahren. Jetzt heißt es Bezirk. Das wirst du alles noch lernen. Der Bezirk Erfurt ist sicherlich zum Eingewöhnen eine gute Adresse. Um Gotha kümmere ich mich selbst. Du bist eine richtige Ausnahme. Alle wollen sie nach Berlin. Kommen vom anderen Ende der Welt und wollen gleich einen Posten in der Hauptstadt, am besten mit Aktentasche und Fahrer. Abteilungsleiter in einem Ministerium, das ist das

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