Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Mindeste. Wenn es nach ihnen ginge, bestünde Berlin nur aus Aktenträgern. Du willst hören, was die Arbeiter sagen? Das ist ungewöhnlich. Aber du hast völlig recht. Schließlich sind wir ja ein Arbeiter-und-Bauern-Staat. Du bist eine Ausnahme. Obwohl, Thüringen? Hm. Ich glaube, da wollte schon mal jemand hin. Deine erste Frau, wie hieß sie doch gleich?»
«Lotte, hat sie auch bei dir vorgesprochen?»
«Ja, richtig, Lotte. Seltsam, nicht war? Das war noch im alten Haus. Aber so seltsam nun auch wieder nicht. Die meisten der kniffligen Fälle sind über meinen Tisch gegangen. Jedenfalls ging es bei ihr aus irgendwelchen Gründen nicht. So ist sie hiergeblieben.»
«Ich weiß. Ich hab mich mit ihr verabredet.»
«Gut, gut. Nun, da habt ihr ja viel zu erzählen. Übrigens decken sich eure Aussagen. Und ihr könnt euch ja noch nicht abgesprochen haben.»
Kaden schaute ihn mitten aus einer heiteren Erzählstimmung heraus scharf an. Er schien immer noch auf der Suche nach etwas zu sein, von dem er selbst nicht wusste, was es war. Nur eines hatte er für diesen Fall von der Partei gelernt: Es hieß wachsam bleiben. Ob man einen konkreten Anlass hatte oder nicht. Der Klassenfeind war ein Meister der Verstellung. Wie bei den Genossen in Moskau folgte auch in Berlin eine Säuberung der nächsten. Daran änderte auch dieser neuerdings so merkwürdig weiche Kurs des glatzköpfigen Bauern im Kreml nichts. Komme, was da wolle, man musste wachsam bleiben. Sonst wurde man selbst Gegenstand unangenehmer Befragungen.
«Gut, gut. Ich rufe in Erfurt an. Die sagen dann den Genossen in Gotha Bescheid. Das kannst du als erledigt ansehen.»
Er lachte.
«Wenn das ZK einen Wunsch äußert, wer sollte da schon nein sagen?»
Lorenz hörte dem Mann nur noch flüchtig zu. Das Gespräch ging dem Ende entgegen, und er hatte noch etwas Wichtiges unerwähnt gelassen. War es überhaupt richtig, damit anzufangen? Oder sollte er nicht doch lieber den Mund halten? «Meine Zunge ist mein Feind.» Er gab sich einen Ruck:
«Du weißt, dass ich voll rehabilitiert bin?»
«Ja, ja, so etwas steht in den Papieren.»
«Das steht nicht nur dort, das ist auch so! Das heißt, alles, was an Anschuldigungen gegen mich vorgebracht wurde, ist erstunken und erlogen. Das ist amtlich. Das gleiche Gericht in Saratow, das mich mit dem Workuta-Billett versorgt hat, musste alles zurücknehmen. Ich habe sie nicht wie die anderen um eine Richtigstellung gebeten, ich habe sie verklagt. Das kannten die Brüder bis dahin nicht.»
Der ZK-Mann schaute ungläubig. Dass ein Ehemaliger sich derart zur Wehr setzte, war nicht vorgesehen. Die Rehabilitierung galt als Akt der Gnade, eine Geste der wohlwollenden Milde der «Organe», eine, auf die man keinen Anspruch hatte, die einem gewährt wurde oder nicht. Dass jemand geklagt hätte, das hatte er bis dahin nicht gehört.
«Und was haben sie dir auf deine Klageschrift geantwortet?»
«Nichts. Sie haben sich beeilt, die Sache aus der Welt zu schaffen. Binnen weniger Monate war es erledigt. Wenn du die übliche Verfahrensweise dort kennst, weißt du, dass sie ganz schön aufgeregt sein mussten. Richtig, bei Stalin hätten sie mir dafür fünf weitere Jahre gegeben. Bei Nikita sind sie vorsichtiger geworden.»
«Du überraschst mich. Kein Wunder, dass es wegen deiner Ausreise so ein Hin und Her gab.»
«Und genau deshalb möchte ich einen klaren Schnitt. So schnell wie möglich. Wo kann ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen?»
«Du meinst, die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik?»
Lorenz merkte an der Betonung, die sein Gesprächspartner auf jedes einzelne Wort legte, dass er in seinen Formulierungen vorsichtiger sein musste. Die moderne deutsche Sprache diente nicht nur der Verständigung, sondern zunehmend auch der Abgrenzung. Einzelne Begriffe waren nicht nur Information, sondern politischer Code, und je nachdem, welches Wort man verwendete, gehörte man dazu oder nicht. «Deutsche Staatsbürgerschaft» war zwar zu jenem Zeitpunkt auch in Ostberlin noch korrekt, aber politisch schon nicht mehr gelitten. Die sprachliche Teilung des Landes eilte der faktischen voraus.
«Und noch etwas, damit zwischen uns, ich meine zwischen der Partei und mir, nichts unausgesprochen bleibt: Der KGB wollte mich vor der Abreise anwerben. Ich sollte Berichte schreiben über alles, was hier so los ist. Stimmungen, Gespräche, Charakteristika.»
Kaden erstarrte.
«Ich habe klar und deutlich nein
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