Schwarzes Gold Roman
Standpunkt zu
finden. Dennoch gingen meine Ahnungen in Erfüllung. Nach der Ölkrise von 1973
erlebten wir eine kräftige Konjunkturabschwächung, die der norwegischen
Schifffahrt fast das Kreuz gebrochen hätte. Eine Bedingung für mein erneutes
Eintreten in die Firma Spenning AS war, dass mir für die Umstrukturierung,
deren Früchte wir heute ernten, freie Hand gelassen wurde. Die Reederei
betätigt sich heute im Offshore-Bereich, in der Tankschifffahrt, der
Passagierschifffahrt, der Industrie, im Hotelgewerbe und im Bereich der
Nahrungsmittelproduktion. Doch es bleibt keine Zeit, sich auszuruhen und
Rückschau zu halten. Vor uns liegt die Zukunft. Unser neues Betätigungsfeld
sind die Medien. Heute zeichnen sich bereits die Konturen einer neuen
Gesellschaftsform ab: die Mediengesellschaft. Das enorme Wachstum der
Wirtschaftszweige, die in Verbindung mit Computertechnologie und Medien stehen,
zeigt, dass die Gesellschaft, in der wir leben, in wenigen Jahren völlig
anders aussehen wird. Spenning AS hat es sich zum Ziel gesetzt, in den
kommenden Jahren an dieser Entwicklung entscheidend mitzuwirken, deshalb
müssen wir schon jetzt in die Bresche springen«, so Lindeman zu WB.
Um sein Nomadentum weiter finanzieren zu können – ohne
nach Hause schreiben und seinen Vater um Geld bitten zu müssen –, hatte
Anders sein Auto verkauft. Er war ein Teil des Rucksacktouristen-Universums
geworden. Das bedeutete: billige Lokale, billige Reisemöglichkeiten und
billige Übernachtungen sowie schwarze Bretter, an denen Monate alte
Mitteilungen an andere Backpacker hingen. Für jede Attraktion, jede Stadt und
jedes Erlebnis konnte man eine weitere Kerbe in seinen unsichtbaren Wanderstab
schnitzen – nur darum ging es. Manchmal fühlte er sich, als gehörte er zu
einer eigenen ethnischen Gruppe. Rucksacktouristen gesellten sich zu anderen
Rucksacktouristen – ob es nun auf dem Bürgersteig in San Francisco oder am
Münchener Hauptbahnhof war. Den Weihnachtsabend hatte er alleine in einem
YMCA-Hotel in New York verbracht. Er hatte vergeblich versucht, Renate
anzurufen. Dann lag er in seinem Hotelbett und starrte an die Decke, während
die anderen Gäste mit Kerzen in den Händen durch die dunklen Gänge
prozessierten und Weihnachtslieder sangen.
Er fuhr nach Brisbane in Australien, haute sich an den
Strand, trank Cocktails mit Schirmchen in den Strandbars oder ließ sich in
einem Cabrio von Party zu Party fahren. Irgendwann fing er ein Verhältnis mit
einer rothaarigen Rocksängerin an, deren Markenzeichen es war, dass sie nie
einen Slip trug – zur großen Freude der Männer, die vorn an der Bühne
standen, wenn das Konzert richtig abhob. Für Anders war diese slipfreie
Erfahrung weniger erfreulich. Er zog sich einen Tripper zu, der so ernst war,
dass er ins Krankenhaus musste. Im Endeffekt war das gar nicht so schlimm, denn
nach erfolgter Kur hatte er die Pflegerin, die seine Männlichkeit
wiederhergestellt hatte, zur Freundin. Sie war alleinerziehende Mutter eines
vierjährigen Sohnes und war der Ansicht, der Junge bräuchte eine Vaterfigur
und eine Luftveränderung. Sie träumte davon, eine Straußenfarm zu
eröffnen.
Anders hatte ziemlich bald genug von australischen Straußen.
Da er nicht das Herz hatte, dem kleinen Jungen auf Wiedersehen zu sagen, machte
er sich mit einem Bus früh morgens davon. Zehn Stunden später saß er in
einem Flugzeug nach Indien. Keiner daheim konnte seiner Reiseroute folgen. Am
längsten blieb ihm Renate auf der Spur.
Liebe Renate,
ich arbeite bei einem Brunnenbauprojekt in Rajasthan mit.
Indien ist unglaublich. Allein die Farben – oder die Gerüche, der Staub. Ich
glaube, Indien ist eine Ecke der Welt, die Gott erhalten hat, um uns daran zu
erinnern, dass wir nur Menschen sind. Ich lebe, Renate. Ich genieße jeden
Atemzug und jede Berührung. Aber ich werde weiterreisen. Schreib mir, Renate.
Poste restante Madras. Danach Poste restante Goa, Bombay, New Delhi und
Kalkutta. Du bist immer bei mir. Ich schreibe die ganze Zeit. Ich arbeite an
einem Roman über einen Mann, der Doffen heißt. Er fällt in einen Brunnen und
landet in einer anderen Welt unter der Erde.
P.S. Heute Nacht war ich mir sicher, dass ich Dich
liebe, sei umarmt,
Anders
Lieber Anders,
es ist schön, Post von Dir zu bekommen. Manchmal aber
wird mit Deinen Briefen die Sehnsucht nur noch schlimmer. Der Umschlag ist ja
der Beweis dafür, dass Du irgendwo bist,
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