Schwarzes Prisma
kam jeden Tag, ein Taschentuch in der Hand für die unausweichlichen Tränen, den Rücken jedoch stockgerade durchgedrückt. Sie wies ihn auf seltsame kleine Angewohnheiten hin, an die Dazen sich niemals erinnert hätte, zum Beispiel die Art, wie sein Bruder dastand, wenn er nachdachte, und welche Speisen Gavin liebte und welche er hasste.
Aber der wichtigste Grund für seinen Erfolg war der echte Gavin selbst gewesen. Gavin hatte Dazen als ein Falsches Prisma hingestellt. Er hatte geschworen, dass Dazen seine Gefolgsleute mit Salontricks täuschte, die niemals irgendjemanden überzeugen würden, der nicht kriminell oder wahnsinnig war oder davon profitieren konnte, wenn er sich auf die Seite eines Falschen Prismas schlug. Alle wussten, dass es in jeder Generation nur ein einziges Prisma gab, also glaubten sie Gavin ohne jeden Zweifel. Daher wussten sie nach ihrem ersten Blick auf Dazens prismatische Augen, dass er Gavin war. Jene, die es besser wussten, die wussten, dass Dazen niemals Salontricks gebraucht hatte, die wussten, dass er ebenso ein Prisma war wie Gavin – mit anderen Worten, Dazens engste Gefolgsleute und Freunde –, waren nach der Schlacht von den Getrennten Felsen in alle vier Winde zerstreut worden. Er hatte sie verraten, und auch wenn es ein Verrat zum Wohle aller war, bereitete es ihm doch schlaflose Nächte zu wissen, dass ilytanische Piraten seine Leute in hundert Häfen als Sklaven verkauften. Er erstellte seine erste Liste mit sieben großen Zielen, und er tat, was er konnte.
Und während all dessen hatte seine Mutter ihn dutzende Male gerettet. Sie verdiente die Wahrheit.
»Eine noch größere«, antwortete er jetzt. Es war für ihn eine größere Überraschung als für alle anderen, dass er einen Sohn hatte. Er und seine Männer hatten in Höhlen gelebt und waren auf der Flucht gewesen, und selbst wenn er die Energie gehabt hätte, eine der Huren zu nehmen, die dem Lager folgten, hatte er doch wegen Karris’ Verlobung mit Gavin zu sehr gelitten. Dazen hatte während des Krieges mit niemandem geschlafen.
Sie stand auf, ging zur Tür, öffnete sie, um sich davon zu überzeugen, dass niemand lauschte, und kam zurück. Leise sagte sie: »Du hast also den leiblichen Sohn deines Bruders adoptiert. Warum?«
Weil du mir immer damit in den Ohren liegst, dass ich dir einen Enkelsohn schenken soll, hätte er beinahe gesagt, aber er wusste, dass er sie damit verletzt hätte. Weil es das Richtige ist? Weil Gavin es getan hätte? Nein, er war sich nicht sicher, ob Gavin es getan hätte. Weil der Junge nichts hatte und eine Chance verdiente? Weil Karris da war und es etwas pervers Angenehmes hatte, sie zu verletzten, indem er tat, was richtig war? »Weil ich weiß, wie es ist, allein zu sein«, erklärte Gavin. Er war überrascht, dass es die Wahrheit war.
»Du erweist Karris zu wenig Achtung.«
»Was hat sie damit zu tun?«
Seine Mutter schüttelte nur den Kopf. »Sie hat es nicht gut aufgenommen?«
»Das kannst du laut sagen«, erwiderte Gavin.
»Was wirst du tun, wenn dein Vater sich weigert, den Jungen anzuerkennen?«
»Er wird mich nicht davon abbringen, Mutter. Ich tue nicht oft das, was richtig ist. Diesmal werde ich es mir nicht nehmen lassen.«
Sie lächelte plötzlich. »Hat dieser Vorsatz es diesmal auf deine Liste der sieben Ziele geschafft? Ihm zu trotzen?«
»Auf meiner Liste stehen nur Dinge, die möglich sind.«
»Also ist es schwieriger, als den Blutkrieg zu beenden? Schwieriger, als die Piratenlords zu vernichten?«
»Doppelt so schwierig«, sagte Gavin. »Und ja.«
»Das hast du von ihm.«
»Was?«
»Dein Vater hat immer Listen erstellt, Ziele, die er abhakte. Heirate ein Mädchen aus der richtigen Familie bis zu deinem fünfundzwanzigsten Jahr, tritt bis zum vierzigsten Jahr dem Spektrum bei – er hat es mit fünfunddreißig geschafft – und so weiter. Natürlich musste er sein Leben niemals in Siebenjahresblöcken organisieren.«
»Wollte er niemals selbst Prisma werden?«, fragte Gavin.
Sie antwortete nicht sofort. »Prismen halten sich für gewöhnlich nur sieben Jahre.«
»Nicht lange genug für meinen Vater. Ich verstehe. Er wollte noch mehr Söhne und Töchter, nicht wahr?« Selbst nach Sevastian. Mehr Werkzeuge. Mehr Waffen, für den Fall, dass mehr schiefging.
Sie sagte nichts dazu. »Ich will heimkehren, Gavin. Ich wollte schon vor Jahren an der Befreiung teilnehmen. Ich bin so müde.«
Einen Moment lang konnte Gavin nicht atmen. Seine Mutter war
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