Schwarzes Prisma
aber es konnte nicht so früh geschehen. »Vater?«, fragte er stattdessen.
Sie faltete die Hände auf dem Schoß, und in ihrer Stimme lag stille Würde. »Dein Vater hat viel zu viele Entscheidungen für mich getroffen. Die Befreiung ist etwas zwischen einem Wandler und Orholam.«
»Also weiß er nichts davon«, sagte Gavin.
»Ich bin mir sicher, dass er es jetzt weiß«, erwiderte sie mit einem kleinen Funkeln in den Augen.
»Du bist weggelaufen?« Genau so musste es gewesen sein. Sie war bei Nacht hinausgeschlüpft, hatte einen Schiffskapitän mit einer obszönen Summe bestochen und war fort gewesen, bevor Andross Guiles Spione ihm auch nur Bericht hatten erstatten können. Sie hatte gewiss das schnellste Schiff im Hafen gewählt, so dass Andross’ Männer, selbst wenn er mit der nächsten Flut ein Schiff ausschickte, trotzdem zu spät kommen würden. Es war, das musste Gavin zugeben, genial.
Und es hatte Andross Guile bestimmt nicht gefallen. Überhaupt nicht.
Sie schwieg lange Sekunden. »Sohn, ich habe deinem Vater in jedem Jahr während der letzten fünf Jahre gesagt, dass es mein Wunsch sei, mich der Befreiung anzuschließen. Er hat es verboten. Ich kann spüren, wie ich mir entgleite. Ich habe seit drei Jahren nicht mehr gewandelt, und mein Leben fühlt sich grau an. Ich liebe deinen Vater von Herzen, aber er war immer ein sehr selbstsüchtiger Mann. Andross will für ewig an seinem Leben und seiner Macht festhalten, und er will nicht allein sein. Ich … habe Mitleid mit ihm, Sohn, und ich habe ihm um der Liebe willen, die wir einst geteilt haben, diese Jahre geschenkt. Du weißt, ich bin loyal, aber uns ist beiden klar, dass er dies als Verrat ansehen wird. Und ich weiß, dass er dir die Schuld geben wird, statt sich selbst, aber wenn ich mich zwischen meiner Pflicht deinem Vater gegenüber und meiner Pflicht Orholam gegenüber entscheiden muss …«
»Gewinnt Orholam.«
Sie tätschelte sein Knie. »Ich habe einen Boten zu Corvan Danavis geschickt …«
»Corvan lebt? An der Mauer hatte ich Angst …«
Sie lächelte traurig. »Es geht ihm gut. Aber deine Verteidiger haben die Mauer verloren, trotz deiner Heldentaten.«
Meine Heldentaten. Nur seine Mutter konnte ohne einen Anflug von Ironie in der Stimme über seine Heldentaten sprechen. Was würdest du darüber denken, da unten in deinem Gefängnis, Bruder?
»Wie dem auch sei, ich habe einen Boten zu ihm geschickt, um ihn wissen zu lassen, dass du wach bist. Ich bin froh, ihn wiederzusehen. Er ist ein guter Mann.« Sie wusste natürlich, dass Corvan ein Leben im Exil gewählt hatte, damit Gavins Maskerade funktionieren konnte, aber wie immer war sie vorsichtig, nur für den Fall, dass Spione lauschten. Gavins Mutter hatte immer die Gabe besessen, herauszufinden, wie sie ihr Leben leben und ihrer Meinung Ausdruck verleihen konnte, trotz der Zwänge des höfischen Lebens und der Forderungen des Protokolls, der Heimlichtuerei und der Diskretion. »Ich werde dich heute Abend sehen, Sohn.«
Als sie fort war, zog Gavin sich langsam an und überprüfte seinen Körper, um festzustellen, ob er sich mit den Anstrengungen des vergangenen Tages irgendeinen dauerhaften Schaden zugefügt hatte. Seine Glieder schmerzten, aber gewiss verdiente er Schlimmeres. Seine Muskeln würden sich im Lauf des Tages lockern, und er dachte, dass er am Abend bereit sein würde, die notwendigen Dinge zu wandeln.
Von der Tür her ertönte ein schneller kleiner Wirbel leichter Klopflaute, das Tempo eines alten Liedes, an dem er und Corvan früher ihren Spaß gehabt hatten. Die Tür wurde geöffnet.
Corvan trat ein. »Du bist auf.« Er klang überrascht.
»Ich bin nicht allzu zerschunden. Danke, dass du mich hast schlafen lassen, aber du weißt, dass du heute meine Hilfe brauchst. Wie ist die Lage?« Gavin verschnürte sein Hemd.
Corvan umfasste Gavins Gesicht mit beiden Händen und starrte ihm in die Augen. Gavin versuchte, seine Hände wegzuschlagen, aber Corvan hielt ihn fest.
»Was zur Hölle tust du da?«, fragte Gavin.
»Du solltest tot sein«, antwortete Corvan. »Erinnerst du dich, wie viel du gestern gewandelt hast?«
»Ich erinnere mich lebhaft daran, und zu den Folgen gehören beträchtliche Kopfschmerzen, die du nicht gerade besser machst.«
Nachdem er ihn noch einige Sekunden länger gemustert hatte, ließ Corvan ihn los. »Es tut mir leid, Lord Prisma. Es heißt, es gäbe Anzeichen, wenn ein Prisma zu sterben beginnt. Ich habe keine Ahnung, was das
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