Schwarzfeuer: Roman (German Edition)
oder mit den gelben Roben eines Erleuchteten. Dann hatte er zweifellos viele Damen von Cailan betört. Wie war sein Name? Heras – nein, Heradion, das war es.
»Was ist?«, fauchte sie und schwebte weiterhin mit gespannten Armen in der Luft. Sie konnte immer noch bis zur Erschöpfung trainieren, selbst wenn sie dabei Zeit fürs Sprechen verschwenden musste.
»Der Hohe Solaros will Euch sprechen.« Der Junge war außer Atem; er musste gerannt sein, um sie zu holen. Natürlich war er gerannt. Thierras d’Amalthier, Gesalbter Celestias, war unter den Dienern der Göttin der höchste in Ithelas. Seine Stimme sprach für den ganzen Glauben. Könige erbebten vor seinem Missfallen; der Kaiser von Ardashir sandte Geschenke, Gewürze und Elfenbeinschnitzereien, um seine Gunst zu erlangen. Niemand ließ den Hohen Solaros warten.
Asharre streckte die Arme nicht. »Warum?«
»Das weiß ich nicht.« Der Junge war nicht gut darin, seine Furcht zu verbergen. »Aber Ihr müsst sofort kommen.«
Sie ächzte und ignorierte ihn. Erst nachdem sie ihre zwanzig Klimmzüge vollendet hatte, ließ Asharre sich auf den Boden nieder. Sie streifte die Gewichte von ihren Knöcheln und vollführte Dehnübungen, eine modifizierte Version des Morgengebets, damit ihre Muskeln sich nicht verspannten. Dann tupfte sie sich mit einem Handtuch, das auf einer nahen Bank lag, die Stirn ab. »Nun, gehen wir.«
Heradion starrte auf ihre ärmellose, schweißdurchtränkte Robe und die lose sitzende Baumwollkniehose. Nach einer beeindruckend kurzen Pause nahm er seinen Mut zusammen und fragte: »Braucht Ihr einen Moment, um Euch bereit zu machen?«
»Nein. Ich sollte doch sofort kommen.« Und Thierras d’Amalthier verdiente nicht so viel Respekt von ihr. Er war einer der Gründe, warum ihre Schwester tot war.
Es zeugte von seiner Vernunft, dass Heradion nicht noch einmal protestierte. Er schloss den Mund und ging in raschem Tempo durch die Turnhalle mit ihrem Kreidestaub und die dahinter liegenden Bäder voran. Badende drängten sich in den Gemeinschaftsbecken mit heißem und kaltem Wasser und ließen sich nach hartem Training müßig darin treiben. Als die beiden vorübergingen, verstummten ihre Gespräche, und es blieb ein unbehagliches Schweigen. Asharre spürte ihre Blicke im Rücken, neugierig und mitleidig. So groß gewachsen Heradion auch war, sie überragte ihn doch um Haupteslänge, und obendrein waren ihre Arme muskulöser als seine. Es gab keine Frau wie sie in den Sommerländern. Südländer wussten nie, was sie von Sigrir halten sollten.
Sie ging schneller. Vorbei an den mit honigfarbenen Adern durchzogenen Marmorbögen, die zu den Bädern führten, und du rch die Sommergärten, die Oralia geliebt hatte und die Asharre jetzt mied. Die Gärten lagen nach einem langen Winter schlafend da; die Rosenbüsche waren knorrige braune Stöcke, die Springbrunnen trocken. Der Dufthauch eines Frühblühers drang an ihre Nase, und sie beschleunigte den Schritt, um ihm zu entfliehen.
Vor ihnen erhob sich die Sonnenkuppel. Ihre Namenspatronin leuchtete im warmen Licht des späten Nachmittags; die kunstvollen Rosenfenster funkelten wie Juwelen. Im Norden glänzte rosig und golden vor dem Hintergrund der Wolken der Turm der Himmelsnadel. Die kleineren Gebäude, die für die täglichen Bedürfnisse des Tempels da waren, umringten den Fuß des Hügels, auf dem die Kuppel stand, in so großem Abstand, dass keines davon sie mit seinem Schatten berührte. Bei der Himmelsnadel war das kein Problem; der Glasturm warf nur ein Band sanfteren Lichtes, klar wie Wasser, und verdunkelte die Erde überhaupt nie.
Heradion führte sie durch Gärten mit knospenden Bäumen und breite Alleen zum Sanktuarium des Hohen Solaros. Die Wachen an der Tür waren ihr unbekannt, aber sie sah ein Wiedererkennen auf ihren Gesichtern aufblitzen, als sie näher kam. Sie waren jedoch zu professionell, um sich das Mitleid anmerken zu lassen. Asharre war dankbar dafür.
Im Innern des Sanktuariums gab es weitere Wachen sowie lange, stille Flure, in denen kostbare ardasische Teppiche auf safranfarbenem, spiegelblank poliertem Marmor lagen. Vergoldete Schreine mit Landkarten und Büchern zogen sich an den Wänden entlang. Schriftrollen aus hundert toten Königreichen, in Behältern aus Elfenbein und Bronze, lagen zwischen ihnen. Celestia repräsentierte das metaphorische Licht des Wissens ebenso wie seine buchstäblicheren Formen, und ihre Tempel lockten Gelehrte aus dem sonnendurchglühten
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