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Schwarzfeuer: Roman (German Edition)

Schwarzfeuer: Roman (German Edition)

Titel: Schwarzfeuer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Merciel
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ersten Ranken von Licht, wie sie das dunkle Blau der verblassenden Nacht weicher machten. In einer Stunde, vielleicht weniger, würde die Sonne aufgehen, und der Morgen würde anbrechen, und er, der so lange in der Dunkelheit eingekerkert gewesen war, würde vielleicht das Strahlen seiner Göttin wieder auf dem Gesicht spüren.
    Er verneigte sich tief vor der Morgendämmerung. Als er sich wieder aufrichtete, legte er den Arm auf die Brust, dann hob er ihn über den Kopf und führte ihn zurück nach unten im uralten Muster. Seine Muskeln protestierten gegen die Dehnung – es war zu viel Zeit vergangen, seit er das letzte Mal das volle Morgengebet vollzogen hatte –, aber die Anmut der Bewegungen war ihm nicht verloren gegangen. Er war nicht gebrochen worden. Er konnte noch immer beten.
    Der Sonnenritter verneigte sich abermals, setzte die Abfolge gemessener Bewegungen fort und weinte stumm vor Dankbarkeit, als das Licht seiner Herrin seine Seele erfüllte.
    »Ich gehe davon aus, dass Ihr gut ausgeruht seid.«
    Kelland öffnete die Augen. Kein Geräusch hatte die Ankunft der Spinne angekündet; er hatte nicht gehört, dass der Riegel angehoben oder die Tür geöffnet worden war. Vielleicht brauchte sie keine Riegel anzuheben und keine Türen zu öffnen, um sich in der Festung zu bewegen. Die Dornen konnten direkt von Schatten zu Schatten wandern, konnten durch Dunkelheit huschen und dem Licht ausweichen.
    Wenn sie jedoch gehofft hatte, ihn zu überraschen, stand ihr eine Enttäuschung bevor. Kelland hatte nicht geschlafen. Er hatte in seiner leichten Meditation verweilt und seine verkümmerten Muskeln durch die Segnungen seines Glaubens gestärkt. Monate in diesem winzigen Loch hatten ihn verkrüppelt, aber ein einziger kurzer Tag, an dem man ihm Sonnenlicht gewährte, hatte genügt, Kelland fast zur Gänze wiederherzustellen. Wach und versunken ins Gebet hatte er ihr Herannahen wie einen Schatten gespürt, der über seine Seele fiel.
    Die Spinne saß auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne neben der Tür. Sie war nicht das, was er erwartet hatte.
    Avele diar Aurellyn war schlank, hatte kleine Brüste und feine Knochen sowie den blassen, goldenen Teint und die leicht schräg stehenden Augen ihres Heimatlandes. Sie war so schön, wie die Geschichten es behaupteten, obwohl es eine kühle, elegante Schönheit war, nicht wärmer als ein eisüberhauchter Bergsee. Juwelen funkelten an ihren Fingern und in dem silbernen Gitter ihrer Halskette, die über einem hochgeschlossenen Kleid aus schwarzem Samt glänzte. Im Gegensatz zu jeder anderen Dorne, die er je gesehen hatte, wies sie keine sichtbaren Verstümmelungen auf.
    »Ich habe so gut geruht, wie ein Mann das in der Höhle seiner Feinde zu tun vermag«, antwortete Kelland und schwang die Füße auf den Boden. Mehrere Schritte trennten ihn von der Spinne, und die Intimität dieser Audienz beunruhigte ihn. Er nahm Zuflucht zur Förmlichkeit und verhielt sich spröde und höflich, um Distanz und Freiraum zu schaffen.
    Ein Lächeln berührte ihre Lippen. »Ich bin nicht Euer Feind, Herr Ritter.«
    »Nein? Dann muss ich mich entschuldigen. Zweifellos haben Eure Lakaien, als sie mich fingen und in dieses Loch sperrten, das nur aus allergrößter Freundschaft getan.«
    »Ich bestreite nicht, dass in der Vergangenheit gewisse Dinge geschehen sind. Lasst es gut damit sein! Ihr habt drängendere Sorgen, genau wie ich. Was glaubt Ihr, warum man Euch hier heraufgebracht hat?«
    Diese Frage hatte Kelland sich selbst gestellt, aber er presste stumm die Lippen aufeinander.
    Die Spinne hatte auf ihre Ringe geblickt. Als er schwieg, sah sie auf, dann lachte sie laut. Ihr Gelächter war warm und tief und ungeheuer verunsichernd.
    »Nicht dafür«, sagte sie. »Ich kann mir vorstellen, was die Soldaten gesagt haben – aber ich hoffe, diese Feststellung wird Euren Stolz nicht verletzen: Wie bezaubernd Ihr auch sein mögt, Ihr habt nichts an Euch, das mich in Versuchung führen könnte, mich von meinem Herrn abzuwenden.«
    »Was dann?«
    »Ihr wollt frei sein, ja? Das ist es, was ich Euch anbiete: Freiheit.«
    Freiheit. Saubere Luft, süßes Wasser, die Fähigkeit hinzugehen, wo immer er hingehen wollte, ohne dass die Schreie aus den Foltergruben in seinen Ohren widerhallten. Die Freiheit, ein Buch zu lesen, behaglich in einer sonnenbeschienenen Ecke der Bibliothek in der Kuppel, oder Mahlzeiten zu sich zu nehmen – richtiges Essen zu kosten –, die er sich selbst ausgesucht hatte.
    Die

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