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Schwarzfeuer: Roman (German Edition)

Schwarzfeuer: Roman (German Edition)

Titel: Schwarzfeuer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Merciel
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über die Erklärung zu sein; wenn überhaupt, leuchteten ihre dunklen Augen noch heller. »Kennt Ihr noch andere Geschichten?«
    Asharre hätte es vorgezogen, Stillschweigen zu bewahren, aber sie sah keine Möglichkeit, höflich abzulehnen. Sie hatte sich nie wohl dabei gefühlt, Volksmärchen zu erzählen – sie besaß die Gabe nicht, sie zum Leben zu erwecken –, also erzählte sie ihnen stattdessen von den Reisen, die sie mit Oralia unternommen hatte: von den Städten, die sie gesehen hatten, von den Menschen, denen sie begegnet waren, von den seltsamen Speisen, die sie stets kosten sollte, weil ihre Schwester sie dazu drängte. Ihre Schwester aß selten auch nur einen Bissen davon selbst, wobei sie ihre Einschränkungen als Gesegnete vorschützte, aber Asharre hatte längst den Verdacht gehabt, dass Oralia diesen Vorwand nur benutzte, damit sie Würstchen aus Schafseingeweiden und in Honig gebackene Grillen essen musste. Einmal hatte sie gesagt: »Eine von uns muss den einheimischen Delikatessen ihren Respekt erweisen, und ich kann es nicht. Guten Appetit!«
    Es war das erste Mal, dass sie von Oralia sprach, seit sie dem Hohen Solaros von ihrem Tod berichtet hatte. Irgendwie schmerzte es nicht, an diesem Tisch, in Gesellschaft von Freunden. Die Erinnerungen waren schöne Erinnerungen, und beim Sprechen spürte Asharre, dass die Last ihrer Trauer leichter und zu etwas beinahe Erträglichem wurde.
    Evenna folgte mit einer Geschichte über Mesandroth Fiendlorn, den Zauberer, der den röhrenden Hirsch verbrannt hatte. In mondlosen Nächten, so ging die Geschichte, erschien auf der Asche der Untat des Zauberers ein geisterhaftes Gasthaus, und die Toten spielten mit den Lebenden um ihre Seelen.
    Als sie geendet hatte, senkte sich Stille über ihren Tisch. Dann lachte Melora, und Heradion klatschte in die Hände, und die düstere Stimmung war gebrochen. Bassinos schenkte sich ein letztes Glas Tee ein. Die Diener kamen, um das Geschirr abzuräumen, und Melora zeigte ihnen ihre Zimmer.
    Asharre lag noch lange wach. Schwere Vorhänge bedeckten die Fenster, damit die Wärme nicht entwich. In ihrem Zimmer herrschte pechschwarze Finsternis. Irgendwo weiter unten im Flur schnarchte ein Mann. Ein Hund bellte draußen vorbeiziehende Schatten an.
    Rastlos stand sie auf und schob den Vorhang beiseite. Der Mond zeichnete die Welt in silbernen Farben und funkelte auf dem eisüberhauchten Dach der Kapelle. Das Himmelsgewölbe hoch droben wirkte wie ein Spiegelbild dieser perlenbesetzten Spitze. Wenn der röhrende Hirsch nur in sternenlosen Nächten erschien, würden seine geisterhaften Glücksspieler heute Nacht dem Müßiggang frönen.
    Evennas Geschichte über das verfluchte Gasthaus ließ sie nicht los. Es war nur eine Geschichte, das wusste sie, mit nicht mehr Substanz als die Elfenlieder auf dem Wintersee. Die Schatten der Toten würfelten nicht mit den Lebenden. Wenn sie überhaupt zurückkamen, dann als Leibeigene eines Blutmagiers.
    Trotzdem … wenn es der Wahrheit entsprach, was würde sie geben, um mit Geistern zu spielen? Was würde sie dafür riskieren? Damit sie ihnen eine Botschaft übermitteln könnte, falls sie gewann, und darauf zu hoffen, dass sie diese Botschaft, wenn sie verschwanden, über die Letzte Brücke mitnahmen. Um zu sagen: Es tut mir leid ; um zu fragen: Warum?
    War dies das Risiko wert, nie mehr zurückzukommen?
    Asharre blieb noch ein Weilchen am Fenster stehen und betrachtete die stille Kapelle, dann ging sie wieder zu Bett.

7
    »Jemand kommt den Hang herauf.«
    »Jäger?«, fragte Malentir.
    Bitharn beschattete die Augen gegen das Sonnenlicht. Der Morgen war jung und frisch, aber die verdorrten Hügel flimmerten in der Hitze, sodass es schwerfiel zu erkennen, ob sich zwischen ihnen etwas bewegte. Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht. Sie sind jetzt fort.«
    Sie waren eine Tagesreise nördlich von Cardental, in den unteren Ausläufern des trostlosen, narbigen Bergs, der auf den Karten Duradhar hieß und den die Einheimischen Teufelskamm nannten. Einst waren die Hänge üppig und grün gewesen, fruchtbar genug, um das baozitische Heer zu versorgen, das die Festung oben besetzte. Dann war Ang’Duradh gefallen, und der gleiche Fluch, der die Soldaten getötet hatte, hatte das Land ringsum befallen. Weizenfelder und Obstgärten verbrannten von ihren Wurzeln her und hinterließen dort, wo sie einmal gestanden hatten, kahle Felsen und rauchende Spalten. Sechshundert Jahre später schwelte im

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