Schwarzfeuer: Roman (German Edition)
Augenhöhlen.
Als die Männer den niedergetrampelten Busch erreichten, wo der Junge innegehalten hatte, hob der Augenlose den Kopf und streckte die Zunge heraus. Diese Zunge war unmöglich lang, unmöglich breit; wenn er sie auf Bitharns Unterarm gelegt hätte, hätte sie bis über ihre Fingerspitzen gereicht. Fünf Löcher, wie die Grifflöcher einer Flöte, verliefen über die ganze Länge der Zunge. Das unterste war so groß, dass man ein Hühnerei hätte hindurchstecken können, das letzte so klein wie eine Fingerspitze. Und während der augenlose Mann am Wind leckte, pfiff dieser durch die Löcher.
Er drehte blind den Kopf und folgte dem, was immer seine Zunge spürte. Bitharn schauderte, als der Blick des augenlosen Mannes über sie hinwegglitt und seine Zunge dabei immer wieder schnell in die Luft stach. Er trat auf sie zu, und sie schloss die Finger um den Griff eines Messers, obwohl sie wusste, dass sie unmöglich treffen konnte, wenn sie warf, während sie auf dem Bauch im Schmutz lag.
Der augenlose Mann machte noch einen Schritt, wobei er hin und her taumelte. Vor sich hin murmelnd riss ihn der Mann, der ihn an der Leine hielt, zurück. »Ank’saah. Schwarzfeuer, kein Blut. Such den Jungen!«
»Wo liegt das Problem?«, fragte ein anderer Bergarbeiter.
»Er wittert Blut«, zischte der mit der Leine. »Rehe vielleicht oder ein Kaninchen. Er hat so lange nichts gegessen, da könnte sogar ein Spatz für ihn interessant sein. Aber es ist nicht unser Junge.« Er schnippte mit der Leine. »Ank’saah. Such den Jungen!«
Der Augenlose wimmerte, zog jedoch die Zunge zurück in den Mund und ließ sie wieder vorschnellen. Sie glitzerte von schwarz gesprenkeltem Speichel. Diesmal wandte er sich nach Norden, auf dem Pfad, den der Junge mit dem gebrochenen Fuß genommen hatte, und eilte voraus, soweit die Leine es ihm gestattete. Die anderen Männer folgten ihm. Binnen wenigen Augenblicken waren sie verschwunden.
Bitharn rappelte sich auf und klopfte sich den Lehm von den Kleidern, dann schluckte sie, um den dumpfen Geschmack der Furcht loszuwerden. Sie wusste nicht genau, was sie da gesehen hatte, aber sie erinnerte sich an das Entsetzen auf dem Gesicht des Jungen. Sie konnte nicht zulassen, dass er diesen Männern allein gegenübertrat.
Die Bergarbeiter hatten weder Schlingen noch Bögen. Wenn sie Abstand hielt, wäre sie einigermaßen sicher. Im Wald und mit dem Vorteil der Überraschung konnte sie fünf Männer töten – sechs, wenn sie sich hinsichtlich des Jungen irrte –, bevor diese sie umzingeln konnten. Sie machte sich keine Illusionen darüber, was alles schiefgehen konnte, aber die Chancen standen günstig für sie.
Wenn es Männer waren. Wenn er ein Junge war.
Kelland hätte es ihr sagen können. Er hätte gewusst, wer diese Leute waren und was sie wollten und welches die richtige Vorgehensweise war. Mit ihm an ihrer Seite hätte sie nicht annähernd so große Angst gehabt.
Aber er war in den Kerkern von Ang’arta gefangen und wurde von den Dornen gefoltert; ihr Treffen mit der Spinne war seine einzige Hoffnung auf Freiheit. Bei dem Gedanken stieg eine vertraute Welle der Verzweiflung in ihr auf, und ein schneller Stich der Wut durchzuckte sie. Wie konnte er sie alleinlassen, wie konnte er sie eine solche Last der Entscheidung allein tragen lassen?
Es war keine Entscheidung. Ihn fesselte die Pflicht ebenso wie sie. Sie konnte diesen verkrüppelten Jungen nicht seinem Schicksal überlassen.
Sie überprüfte ihre Messer und ihre Bogensehne, dann pirschte sie hinter den Jägern her.
Sie hörten sie nicht kommen. Die Männer stürmten achtlos durchs Unterholz, weswegen sie jedes Geräusch übertönten, das Bitharn hätte machen können. Der Augenlose neigte den Kopf in ihre Richtung, ließ die Zunge wieder aus dem Mund schnellen, aber der Mann, der ihn an der Leine hielt, fluchte und zwang ihn zum Weitergehen. Bitharn umging sie und beeilte sich, den Jungen vor ihnen zu erreichen.
Sie fand ihn zusammengesackt an einem Baumstamm, wo er schluchzend nach Luft rang. Sein verletztes Bein hatte er zur Seite weggestreckt. Ein riesiges purpurfarbenes Geschwür hatte seinen Fuß verschlungen und kroch ihm halb bis zum Knie herauf. Etwas Ähnliches hatte sie noch nie an einem menschlichen Glied gesehen; es sah aus wie ein Ausschlag auf einem Birkenstamm, nichts mehr außer verschrumpelter Borke und knorrigem Holz. Kein Fleisch.
Dieses Gefühl von Falschheit entströmte auch ihm, widerlich wie der
Weitere Kostenlose Bücher