Schwarzlicht (German Edition)
erklären?»
«Der Typ vertritt eine Mutter, deren Kind bei Nina in Behandlung ist. Nur deshalb haben sie sich getroffen. Rein beruflich. Sonst ist da nichts mehr zwischen den beiden. Deine Verlustängste sind krankhaft, und das weißt du ganz genau.»
Ninas Worte, dachte Vincent. «Dann überleg mal, woher ich das habe.»
«Womit wir endlich bei deinem Dauerthema gelandet wären.»
Sie stand auf und räumte das leere Geschirr ab, ließ Wasser in die Schüssel laufen.
«Ich habe deine Ausstellung gesehen», sagte er.
«Ach.»
«Woran arbeitest du als Nächstes?»
«Willst du das wirklich wissen?»
«Würde ich sonst fragen?»
«Ich kann’s nicht fassen. Du interessierst dich wirklich für deine Mutter?»
Sie gingen nach nebenan. Das einstige Wohnzimmer hatte Brigitte in einen Arbeitsraum umgewandelt. Der lange Tisch lag voller Bilder. Sie legte vier davon in eine Reihe: Frauenporträts, frontal fotografiert. In Vincents Augen unterschieden sie sich in nichts von den Aufnahmen, die im NRW-Forum gezeigt worden waren.
«Dieses Mal sind es Obdachlose», sagte seine Mutter.
«Aha.»
«Ich werde Ausstellungen in Düsseldorf und Frankfurt haben.»
«Glückwunsch zu deinem Erfolg.»
«Das ist nicht kommerziell. Leben kann man davon nicht.»
Brigitte setzte Kaffee auf. Im Flur klingelte das Telefon. Sie verschwand. Als sie nach ein paar Minuten wiederkam, wirkte sie bedrückt.
«Was ist?», fragte er.
Statt zu antworten, goss sie den Kaffee in zwei Becher und gab Milch und Zucker hinzu, ohne Vincent zu fragen. Sie legte die Hände um ihren Becher, als müsse sie sich wärmen.
«Dir gefallen die Fotos nicht», sagte sie.
«Doch. Irgendwie berühren sie einen. Es ist nur …»
«Was?»
Vincent holte tief Luft. «Das mit der Autobiografie. Muss das sein?»
«Dorothee hat geplaudert, ich wusste es.»
«Ich möchte nicht, dass alles wieder aufgewirbelt wird. Dass alle wieder über dich reden. Nicht als Fotografin, sondern als Terroristin.»
«Und über dich als Terroristenkind. Dir geht es doch immer nur um dich.»
«Kann denn nicht endlich Frieden sein?»
Sie trank und schlürfte dabei. Der Kaffee war noch heiß.
«So ein Buch bringt Kohle», sagte sie.
«Wenn du Geld brauchst, verkauf das Haus.»
«Bitte?»
«Ich weiß sowieso nicht, wie du in diesem Gemäuer leben kannst.»
«Ich bin hier aufgewachsen.»
«Eben.»
Sie ließ den Kopf hängen. Vincent fielen die schlaffen Stellen an ihren Wangen auf. Die Falten am Hals, das dünne Haar. Im Januar war sie zweiundsechzig geworden.
«Was war das für ein Anruf?», fragte er.
Sie zögerte und wich seinem Blick aus. Dabei verschränkte sie die Finger und rieb die Handflächen gegeneinander. Vincent fragte sich, was sie vor ihm verbergen wollte.
«Mein Anwalt», sagte sie schließlich.
«Wozu brauchst du einen Anwalt?»
Sie löste die Hände voneinander. «Ich werde immer einen brauchen. Die werden mich bis ans Lebensende verfolgen.»
«Wen meinst du?»
«Blöde Frage, Mann! Kriegst du nicht mit, was in Stuttgart läuft? Der Buback-Prozess? Sie suchen noch immer diejenigen, die geschossen haben. Dieser Staat wird niemals Ruhe geben.»
«Hast du geschossen?»
Sie legte die Hände auf ihre Knie und beugte sich vor. «Raus jetzt!»
«Beruhig dich.»
Sie zeigte zur Tür. «Raus!»
«Brigitte, bitte.»
«Hat dich der Staatsschutz geschickt, oder was? Du Bullenschwein, du Büttel des imperialistischen Staatsapparats! Es wäre besser gewesen, ich hätte dich abgetrieben!»
Ruhig bleiben, sagte sich Vincent. «Komm, das glaubst du selbst nicht.»
«Doch. Du bist genau wie dein Großvater!»
Es hatte keinen Zweck, Vincent sprang auf. Versehentlich stieß er gegen den Tisch, ein Kaffeebecher kippte um. Brigitte schimpfte weiter, er hörte nicht hin und rannte aus dem Haus, in dem drei Generationen der Familie Veih aufgewachsen waren.
Drei verkorkste Generationen.
Er fuhr zurück in die Stadt und konnte an nichts anderes denken. Wieder einmal war er machtlos gegen das Selbstmitleid, trotz allem, was er während seines Studiums gelernt hatte. Im letzten Moment bemerkte er die blauen Schilder, schoss auf die Autobahn und scherte hinüber auf die linke Spur. Er hupte einen lahmen Opel zur Seite und beschleunigte weiter. Schneller, schneller. Die Brücke – jetzt das Steuer verreißen und durch die Brüstung brechen, hinunterstürzen und im Strom versinken, das wär’s.
Mit elf hatte er sich geweigert zu essen, nach dem Vorbild seiner Mutter
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