Schwarzlicht (German Edition)
Am Samstagnachmittag vor sechs Wochen hatte er versehentlich den Brief dieses Anwalts geöffnet, der an Nina adressiert gewesen war. Vincent hatte geglaubt, der Umschlag enthalte eine banale Rechnung. Stattdessen hatten ein paar handschriftliche Zeilen sein Leben auf den Kopf gestellt.
Seine Freundin hatte sich in Gedanken sicher schon länger von ihm gelöst. Warum sonst hätte sie sich mit diesem Typen eingelassen? Es hatte eine Zeit gegeben, als diese Entwicklung undenkbar schien. Gab es einen Weg dahin zurück?
Vincent schloss sein Auto ab, ignorierte den Aufzug, nahm die Treppe im Laufschritt. Park-View , vierter Stock. Vincent schloss die Tür zu seinem geborgten Domizil auf und stellte fest, dass ihm das Alleinsein in diesen vier Wänden ebenso wenig gefiel wie in den eigenen.
Er packte die Einkäufe in den übergroßen Kühlschrank aus Edelstahl. Dann trat er auf die Terrasse, blickte in die Baumkronen der Grünanlage und versuchte, zu entspannen. Es war ruhig hier, aber auf Dauer wäre das nichts für ihn. Ihm fehlte die Urbanität seines Lieblingsstadtteils, die Läden in unmittelbarer Nähe, die Kneipen und Restaurants.
Er schlüpfte in seine Laufklamotten, legte sämtliche Gewichte an, steckte die Ohrstöpsel des MP3-Players in den Gehörgang und absolvierte die gleiche Runde wie gestern.
Bei seiner Rückkehr war er müde und ausgepowert, sein Puls brauchte viel zu lange, um sich zu beruhigen. Schlechte Zeit, fünfundvierzig Minuten. Er baute ab, statt schneller zu werden, es ärgerte ihn. Ich brauche Schlaf, dachte er, und wenn’s nur für eine Stunde ist.
Vincent schloss das Handy an das Ladegerät, stellte die Alarmfunktion auf zwanzig Uhr und legte sich ins Bett. Rasch war er weggedämmert.
Ein Schnarren und Surren weckte ihn, wie von einer Hornisse. Er war sich sofort sicher, dass er nicht lange geschlafen hatte. Er setzte sich auf und lauschte. Jemand machte sich an der Tür des Apartments zu schaffen, offenbar mit einem Elektropick.
Rasch streifte er Hose und Hemd über und postierte sich hinter der Zimmertür.
Ein leises Klacken, das Schloss war geöffnet.
Ein Schlurfen. Die Eingangstür fiel wieder ins Schloss. Schritte im Flur. Vincent wich zurück. Das Parkett knarrte unter seinen Füßen.
«Vinnie?»
Ingo Ritters Stimme. Vincent trat aus seinem Versteck.
«Um ein Haar hättest du mich nervös gemacht», sagte er. «Hast du denn keinen Schlüssel?»
«Den hab ich dir gegeben. Ich dachte, du wärst noch in der Festung und arbeitest an deinem Fall.» Ingo stellte einen Karton auf dem Boden ab, streifte sich mit beiden Händen die langen Haare hinter die Ohren, dann packte er aus. Ein kleines, flaches Fernsehgerät. «Ich hab dir angemerkt, dass du dich ohne Glotze nicht wohlfühlst.»
Vincent fiel die Frau vom WDR ein. «Weißt du, wann die Aktuelle Stunde anfängt?»
«Shit, ey, was hab ich gesagt!» Ingo blickte auf seine Uhr, goldenes Gehäuse. «In ein paar Minuten, glaube ich.»
Der Fernseher war fabrikneu, die Kabel steckten noch in transparenten Plastiksäckchen. Ingo schloss das Gerät an. Weil er fürchtete, dass der Fuß Kratzer auf der antiken Kommode hinterlassen könnte, ließ er es auf dem Boden stehen. Zuerst reagierte es nicht auf die Fernbedienung, dann entdeckte Ingo den versteckten Netzschalter am Rahmen des Bildschirms.
Sie setzten sich auf den Teppich, bunte Seidenkissen vom Sofa als Unterlage. Ein Moderatorenpärchen begrüßte die Zuschauer, machte ernste Mienen und vermeldete den Tod des Ministerpräsidenten. Die Polizei ermittelt wegen Mordes .
«Jetzt ist es raus», kommentierte Ingo.
Der Beitrag begann mit alten Bildern, auf denen ein energischer Walter Castorp die Treppe einer Bühne erklomm. Eine Rede im Freien, Wahlkampfauftritt. Am unteren Rand schob sich ein weißes Band ins Bild, Schrift erschien. Bericht: Saskia Baltes .
Vincent konzentrierte sich. Natürlich hatte die Reporterin ihren Text auf Sensation gebürstet und trug dick auf, lieferte aber keine Falschinformation.
Er sah sich selbst vor der Festung stehen, Wind verwirbelte seine Frisur. Ich hätte das Sakko zuknöpfen sollen, dachte Vincent. Und weniger verbissen gucken.
Natürlich war mir sofort klar, dass im Fall Walter Castorp das öffentliche Interesse besonders groß sein würde. Deshalb ist mein Team von Anfang an mit äußerster Sorgfalt an die Sache gegangen.
Eine andere Pressekonferenz, vor einigen Tagen: Castorp beteuerte seine Unschuld am Abhörskandal.
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