Schwarzlicht (German Edition)
Besprechungen und E-Mails schreibend vor dem Bildschirm. Ein Kollege ging morgen in Elternzeit. Ein anderer fuhr zu einer Fortbildung, zwei waren seit Tagen krank, eine war in Urlaub – ganze fünf Leute hatte Vincent für den Fall Castorp noch zur Verfügung. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Er konnte nur hoffen, dass ihm die kommenden Tage keine neuen unklaren Leichensachen bescheren würden.
Zuletzt ging Vincent zu Felix, um mit ihm die letzten Notizen und Protokolle durchzugehen. Er berichtete ihm von seinem Plan, Castorps Büros zu durchsuchen. Noch hatte sich Staatsanwalt Kilian nicht zurückgemeldet.
Auch über Roland Körber, den Exfälscher und Fahrer der Staatskanzlei, gab es noch nichts Neues.
«Die Kollegen haben unter seiner Adresse nur die Ehefrau angetroffen», erklärte Felix. «Sie tut, als sei sie besorgt um ihren Mann, und behauptet, nicht zu wissen, wo er sich herumtreibt. Mit dem Kerl sind wir ganz nah dran. Ich hab’s im Urin.»
«Vielleicht ist er auch ein berechtigter Spurenverursacher, und es gibt eine ganz einfache Erklärung.»
«Manchmal glaube ich, du widersprichst mir aus Prinzip. Hab ich recht, Chef?»
«Wo genau wurden Körbers Fingerspuren entdeckt?»
Felix zog die Akte zurate. «Auf zwei Medikamentenschachteln. Xanax, zwei Milligramm, jeweils die Hunderterpackung. Eine davon war noch nicht angebrochen.»
«Was ist das für ein Mittel?»
«Gehört zur Familie der Benzodiazepine. Wird bei Angststörungen verschrieben. Beruhigt und entspannt.»
«Hunderterpackung? Macht das Zeug nicht süchtig?»
«Worauf du einen lassen kannst. Und zwei Milligramm sind die größte Dosis auf dem Markt. Fabris Leute haben die Schachteln in der Küche eingetütet, Castorps Fingerspuren waren auch darauf.»
Ein medikamentenabhängiger Ministerpräsident. Ein Fahrer, der in das Penthouse eindrang. Vincent besah sich die beiden Fotos, die Felix aufgetrieben hatte. Das eine war älter und stammte aus Körbers Kriminalakte, das andere war halbwegs aktuell, die Ehefrau hatte es ausgehändigt. Vincent studierte das rote Gesicht. Im Lauf der Jahre waren die Wangen schlaffer geworden, der Walrossbart grau.
Der Mann war zweiundfünfzig und gelernter Fotogravurzeichner – ein Beruf, der längst ausgestorben war.
Roland Körber, was hast du im Penthouse getan?
28
Im Präsidium war Ruhe eingekehrt, nur bei den Kollegen der Kriminalwache sowie in der Polizeiwache Bilk, die im Trakt neben dem Eingang untergebracht war, war rund um die Uhr Betrieb.
Vincent beschloss, Feierabend zu machen und als Erstes seine Wohnung aufzusuchen. Schon nach einer Nacht in dem fremden Apartment vermisste er viele Dinge, die sonst zu seinem Alltag gehörten. Seinen MP3-Player mit der Musik, die er zum Sport hörte, ein paar Romane für schlaflose Stunden. Nützlichen Kram wie Zahnseide und Sonnenbrille – beim gestrigen Packen hatte ihm jeder Plan gefehlt.
Vielleicht würde er Nina treffen, die jetzt ebenfalls Feierabend hatte. Vielleicht war sie das Versteckspiel leid.
Während der Fahrt durch die Innenstadt zappte Vincent durch die Radiokanäle, bis er auf einen Bericht über Castorp stieß. O-Töne von der Pressekonferenz, Vincent erkannte seine eigene Stimme kaum – sie klang seltsam fremd aus den Lautsprechern.
Ein Kommentator spekulierte über den Wahlausgang. Die Opposition hatte in Umfragen mächtig aufgeholt und lag gleichauf mit der Regierungspartei. Doch Castorps Tod hatte alle Zahlen schon wieder obsolet gemacht.
Vincent erreichte die Gneisenaustraße und ließ sein Auto in zweiter Reihe stehen – erfahrungsgemäß waren die Knöllchenschreiber vom Ordnungsamt um diese Uhrzeit nicht mehr unterwegs. Während er die Treppe hochstieg, musste er an seinen Krach mit Nina denken. Im Geiste spielte er durch, was er ihr sagen würde, falls sie zurückgekehrt war.
Die Eingangstür war verriegelt. Post und Zeitung lagen unter dem Schlitz im Flur. Keinerlei Anzeichen, dass Nina seit gestern Morgen hier gewesen war. Sie übernachtet immer noch bei ihrer Kollegin aus dem Krankenhaus, folgerte Vincent.
Oder wo auch immer.
In der Küche fand er einen Stoffbeutel, in den er alles packte, was ihm auf die Schnelle in den Sinn kam. Fast hätte er die Krawatte vergessen. Rasch blätterte er die Post durch, nahm die Zeitung mit und fuhr wieder los.
Ein Zwischenstopp in einem Supermarkt. Mineralwasser, ein paar Flaschen Bier, spanische Erdbeeren, etwas Käse zum Frühstück.
Nina ging ihm nicht aus dem Kopf.
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