Schwarzlicht (German Edition)
ich so lese.» Er war sechzehn gewesen. Zwei Wochen zuvor war der Großvater gestorben. Die Oma hatte ihn nach Köln-Ossendorf mitgenommen, er war nur widerwillig mitgefahren.
«Du hast kein Wort gesprochen. Und nie meine Briefe beantwortet.»
Nicht einmal geöffnet, dachte Vincent. Erst mit einigem Abstand war er dazu in der Lage gewesen.
«Und weißt du noch, als ich entlassen wurde?»
«Ich habe dir Blumen ins Haus gestellt.»
Das war 1999 gewesen, im Jahr nach dem Tod der Großmutter. Mit seinem Erbteil hatte sich Vincent eine Auszeit gegönnt. Er ließ sich vom Polizeidienst beurlauben und schrieb sich an der Uni Köln für das Fach Psychologie ein. Weil er wissen wollte, warum die Menschen ticken, wie sie ticken.
«Du hast mich fürchterlich beschimpft», erwiderte Brigitte.
«Ja, unsere Wiederbegegnung ist ein wenig aus dem Ruder gelaufen.»
«Wir sollten aufpassen, dass uns nicht der Rest des Lebens aus dem Ruder läuft.»
«Das sagt die Richtige.» Vincent sah auf die Uhr. «Ich muss an die Arbeit. Danke fürs Essen.»
Seine Mutter begleitete ihn zur Tür. «Quarkstullen hast du als kleines Kind jeden Tag gegessen.»
Er schüttelte den Kopf. Daran hatte er keine Erinnerung.
«Schade, dass du nicht zum Kaffee bleiben kannst. Nina kommt auch.»
«Allein?», fragte Vincent. «Oder mit dem Anwalt eures Vertrauens?»
«Sie leidet unter eurer Trennung. Soll ich ihr etwas ausrichten?»
«Lässt sie mir etwas ausrichten?»
«Nein.»
«Siehst du.»
«Du solltest dich um Ninotschka bemühen. Weißt du, dass Jens ihr den Hof macht?»
«Es ist ihre Entscheidung.»
«Was ist nur los mit euch?»
«Nina ist zuerst ausgezogen. Sie hat mich in letzter Zeit nur noch beschimpft. Als Psycho-Wrack hingestellt.»
«Bist du auch. Das hat der Staatsapparat aus dir gemacht.»
«Klar. Der Umgang mit Verbrechern wie dir.»
Vor der Tür schlug ihm der Wind entgegen. Wenigstens regnete es nicht mehr. Vincent lief hinüber zu dem VW-Transporter des angeblichen Malerbetriebs.
Er klopfte an die Hecktüren. Die Scheiben waren verdunkelt, aber er wusste, dass die Kollegen glotzten. Er hielt seinen Dienstausweis hin.
Fast eine Minute verging, dann schwang die Tür auf. Muffige Luft schlug ihm entgegen.
Sie waren zu zweit.
«Haut ab», sagte Vincent.
«Das ist der Sohn», bemerkte der eine.
Vincent registrierte eine Bewegung am Haus. Eine Gardine wurde zur Seite gezogen, Brigittes Gesicht tauchte hinterm Fenster auf.
«Lasst sie in Ruhe!»
«Wir befolgen nur unsere Anweisungen», erwiderte der andere.
Scheißbullen, dachte Vincent.
45
Auf der Rückfahrt löste sich allmählich der Druck, der ihn jedes Mal überkam, wenn er mit seiner Mutter zusammen war. Ihm fiel der Preis ein, den sie erhalten sollte. Zehntausend Euro – vielleicht könnte sie dann auf die Autobiografie verzichten. Wenn es überhaupt zu der Auszeichnung kommen würde.
Sobald die Öffentlichkeit davon Wind bekäme, dass gegen die ehemalige Terroristin aufs Neue ermittelt wurde, wäre der Beschluss rasch Schnee von gestern. Jede Wette, dachte Vincent.
Er erreichte die Autobahn. Die Unterhaltung mit Brigitte hatte Erinnerungen wachgerufen. Während des Studiums in Köln hatte er sich in den Kopf gesetzt, mehr über seine Mutter zu erfahren. Er stöberte in Zeitungsarchiven und las, dass sie die Schleyer-Entführung mit vorbereitet hatte und am Attentat auf den damaligen Nato-Oberbefehlshaber Alexander Haig beteiligt gewesen war. Zudem hatte man ihr zwei oder drei Banküberfälle nachgewiesen. Es fiel Vincent schwer, diese Verbrechen mit der kleinen, schmalen Frau in Verbindung zu bringen, die er einst im Ossendorfer Besucherzimmer wiedergetroffen hatte.
Er hatte Bücher über die RAF studiert. Und sich durch deren eigene Texte gequält: Die Rote Armee aufbauen, Das Konzept Stadtguerilla, Erklärungen zu Anschlägen und Hungerstreiks sowie das sogenannte Mai-Papier der zweiten Generation: Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front . Der arrogante Ton erschreckte ihn zutiefst. Welchen Anteil hatte seine Mutter an diesen Pamphleten?
Schließlich wurde Brigitte Veih nach zwanzig Jahren Haft vorzeitig auf Bewährung entlassen. Vincent hatte im Haus die Heizung instandgesetzt, defekte Lampen repariert, Staub gewischt. Er hatte das Bett überzogen und zwei Bund Tulpen in eine Vase gestellt. Doch er war nicht in der Lage gewesen, seine Mutter zu begrüßen. Erst drei Tage später fasste er sich ein Herz und fuhr zu ihr.
Du hast du mich
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