Schwarzwaelder Dorfgeschichten
Knaben, die ein bloßes Kasernenleben führten, wieder etwas Familienhäuslichkeit zu kosten geben. Er lud daher in der Religionsstunde die zwölf Ersten, zu denen auch Ivo gehörte, auf einen Abend zu sich ein. Diese Eröffnung wurde als Befehl angesehen, und nach der Reihenfolge ihrer Plätze in der Klasse traten die Knaben, ein jeder sich vielmal verbeugend, Abends ein.
Der Direktor lebte mit seiner alten Schwester zusammen. Es wurde nun Thee bereitet, und die Scholaren griffen schüchtern zu.
Dem guten alten Manne selber war das Familienleben schon längst abhanden gekommen. Statt daher die Knaben nach ihrer Heimath und dergleichen zu fragen, sprach er mit ihnen von den Büchern und dem Studium. Nur einmal, als er einen lustigen Spaß aus seiner Jugend erzählte, wie nämlich zwei Blätter in seiner Bibel zusammengeklebt waren und er sich nicht zu helfen wußte, lief ein halblautes Kichern durch die Reihe der Knaben. Der Direktor aber knüpfte sogleich die Lehre daran, daß, wenn man etwas in der Bibel nicht recht verstehe, einem noch irgendwo ein Blatt zugeklebt sei.
Als es neun Uhr läutete, sagte er: »So, jetzt zum Nachtgebet.« Alles stand auf und betete, dann sagte er: »Gute Nacht,« und die Knaben trollten sich fort. Sie hatten wenig Familienleben bei dem Direktor gehabt.
So verging für Ivo der Winter. Oft war er auch sehr betrübt, wenn er die Knaben aus der Stadt Schlitten fahren oder Schneeballen werfen sah. Als aber draußen der Schnee schmolz und die ersten Triebe sich in der Natur regten, da zitterte sein Herz mit den Pulsen, die draußen die Erde belebten; es drängte auch ihn hinaus in die freie, sonnige Heimath.
Fußnoten
1 Keien, so viel als verdrießen.
2 Von Pater noster, so viel als Rosenkranz.
3 Hier war »
frigor ad
« durchstrichen.
4 Gedörrte Birnen und Apfelschnitten.
8.
Die Vacanz.
Schon mehrere Wochen vor der Ostervacanz hatte kein Knabe mehr seine Gedanken recht bei dem Lernen; Alles hüpfte und sprang, wenn es ans Nachhausegehen dachte.
Ivo und Clemens gingen auf Spaziergängen oft Hand in Hand und erzählten einander viel von der Heimath.
Clemens war der Sohn eines Schreibers. Er hatte keine heimische Kindheit gehabt, da sein Vater schon zum drittenmal in eine fremde Stadt versetzt worden war.
Am Abend vor der Vacanz war großes Packen auf allen Stuben, wie vor einem Manöver; am Morgen aber mußten noch alle Knaben in die Kirche, und so laut sie auch sangen, so war ihr Denken und ihre Sehnsucht doch mehr nach ihrer irdischen Heimath gerichtet, als nach ihrer himmlischen.
Ivo nahm herzlichen Abschied von Clemens, und nach der Fuhrmannsregel hielt er zuerst kurzen Schritt, obgleich es ihn zur höchsten Eile drängte. Bartel begleitete ihn, er ging zu einer Base. Er war ein lästiger Gefährte, denn wo unser Herrgott einen Arm herausstreckte, wollte er einkehren. Ivo willfahrte ihm erst in Untermarchthal, wo sich ihr Weg schied. Glücklicherweise traf hier Ivo jüdische Pferdehändler aus Nordstetten. Sie hatten eine große Freude mit ihm, die er von ganzem Herzen erwiderte, sie waren eben zur Abreise bereit, und Ivo konnte mehrere Stunden mit ihnen fahren. Er fragte nun nach Allem, was im Dorfe vorgegangen war, und er hörte von Geburt, Heirath und Tod. Ivo dachte, daß diese drei die Parzen des Lebens seien, und citierte still vor sich hin den Schulvers:
Clotho colum retinet, Lachesis net, et Atropos occat
1 .
Als es bergan ging, zogen die reisenden Handelsleute ihre Gebetriemen aus einem Beutelchen und legten sie um Stirn und Arm: aus kleinen Büchern sprachen sie sodann ihr langes Morgengebet. Ivo verglich die Athemwolken, die ihrem schnell bewegten Munde entströmten, mit dem Rauchopfer in der Bibel, denn er achtete jedes Glaubensbekenntnis, und besonders das jüdische als das uralt ehrwürdige. Er blickte auch in das offene Gebetbuch seines Nebenmannes und freute sich, daß er auch Ebräisch lesen konnte. Der Betende nickte ihm still, aber freundlich zu.
Ivo bewunderte die Fertigkeit, mit der diese Leute das Ebräische so schnell weglasen, schneller als der Direktor selber.
Als Ivo herzlich dankend vom Wägelchen abstieg, um seinen Weg zu Fuße weiter zu gehen, mußte er seinen Landsleuten versprechen, heute nicht mehr ganz nach Hause zu gehen, damit er nicht krank werde. Still seine Schritte fördernd, lobte Ivo innerlich sein liebes Nordstetten, in dem alle Menschen so gut waren, Christ und Jud, Alles gleich.
So sehr auch die
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