Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
einer halben Ewigkeit den Freund ans Ufer. Er ist erstaunt, als er dabei Knochen aus seinem eigenen Ellbogen ragen sieht. Peter röchelt. Wiederbelebungsversuche. Christine schreit. Ihr Entsetzen mischt sich mit dem blauen Zucken des Notarztwagenlichts. Lorena Stein steht am Grab ihres einzigen Sohnes.
Hanna richtete sich auf. »Eiskalt unter die Erde gebracht.«
Ehrlinspiel starrte sie an. Hatte er laut gesprochen? Hatte sie ihn so aus dem Konzept gebracht? Und was lachte sie darüber?
Ihr Gesicht wurde ernst. »Was ist mit Ihnen?«
»Was soll sein?« Er knautschte das Futter seiner Taschen.
»Sie schauen mich an wie ein grüngestreiftes Alien mit rosa Tupfen.«
»Ich … ich habe nur an … an einen alten Freund gedacht.«
»Einen toten Freund?«
Er nickte.
»Der Nachbarsjunge«, stellte sie fest.
Ehrlinspiel betrachtete das Wasser, das sich von Fels zu Fels vom Plateau stürzte. »Ja.« Er versuchte, den Film zu stoppen. Die Wochen nach Peters Tod. Als alles ans Licht gekommen war über seinen Freund. Das, was er Moritz nie erzählt hatte, aus Furcht, als Schwächling zu gelten. Das, was Ehrlinspiel nie hatte bemerken wollen, trotz so vieler Anzeichen. Was letztendlich Peters Tod bedeutet hatte.
Brock merkte sich anscheinend alles. Und sie war scharfsinnig und sensibel. Sofort hatte sie die Verbindung zu ihrem früheren Gespräch hergestellt, in dem Ehrlinspiel ihr von seiner Kindheit berichtet hatte. Die beiden Familien in Horben. Das gemeinsame Haus in Freiburg. Bestimmt hatte sie sich an sein Zögern erinnert, nachdem sie gefragt hatte, ob er seinen Freund noch besuche. Und daran, dass er ohne Erklärung davongegangen war. Das musste ihr tatsächlich arrogant erschienen sein.
»Ich bin schuld an seinem Tod. Und das hier«, er hob seinen linken Arm, »ist die Quittung dafür. Ich kann ihn nicht mehr ganz gerade machen.«
Jetzt ist es raus, dachte er und sah auf die glitschigen Blätter am Boden. Doch er fühlte weder Erleichterung noch Scham.
»›Eiskalt unter die Erde gebracht‹, das ist das Thema einer Fachzeitschrift«, sagte sie, und Ehrlinspiel glaubte, in ihrem offenen Gesicht ein tiefes Verstehen zu erkennen. Aber womöglich war das auch nur eine alberne Hoffnung.
»Sie lag bei den Sachen für Bruno. Es geht darin um eine neue Bestattungsmethode.«
Sie setzten ihren Weg fort.
Ehrlinspiel war dankbar, dass Hanna nicht weiter in der ewig eiternden Wunde stocherte. Allmählich verstand er, warum Sina ihr vertraute. Brock ließ ihm seine Gedanken. Bewertete ihn nicht. Jedenfalls wünschte er sich das.
»Ach so.« Seine Gedanken waren bei Peter. Er hatte einen Herzfehler gehabt. Geerbt von seiner Mutter, der Oberstaatsanwältin Lorena Stein: das Wolff-Parkinson-White-Syndrom. Sie selbst hatte den Defekt durch eine Operation beheben lassen. Bei Peter war auch eine geplant gewesen. Im Alltag war ihm manchmal schwindelig geworden, dann hatte er theatralisch die Luft angehalten und kaltes Wasser getrunken. Alle hatten gedacht, er spiele sein komödiantisches Talent aus. Als Ehrlinspiel ihn damals ans Ufer gezogen hatte, war er sich nicht einmal sicher gewesen, ob Peter auch das Röcheln nur spielte. Heute wusste er, dass das rein mechanisch gewesen war, weil sich in den Atemwegen des toten Körpers Schleim, Wasser und Luft befunden hatten.
»Die Methode stammt von einer schwedischen Biologin. Susanne Wiigh-Mäsak. Es ist eine Art Ökobestattung. Diese Schwedin macht aus fünfundsiebzig Kilogramm Leiche fünfundzwanzig Kilo Dünger. Rosa Granulat. Auf ihren Toten sollen besonders edle Blumen wachsen.«
Ehrlinspiel stellte sich Peters Grab vor. Was waren im Sommer für Blumen darauf gewachsen? Er erinnerte sich nicht.
»Und das haben Sie alles gelesen, während Sie mit Joseph redeten?«, versuchte er, sich auf Hannas Erzählung einzulassen.
»Joseph musste pinkeln. Da habe ich den Artikel überflogen.« Sie grinste. »Alles ganz legal.«
Er schüttelte den Kopf. »Tote als Kompost. Was es alles gibt.«
»Total kurios. Das Verfahren gibt es schon viele Jahre. Aber jetzt wurde es richtig kommerzialisiert. Die Leichen werden in sogenannten Promatorien umweltgerecht verdüngt. Ohne Gifte und Bodenbelastung. Man kühlt den Körper einfach runter, taucht ihn anschließend in flüssigen Stickstoff, und wenn alles perfekt schockgefroren und brüchig ist, zerkleinert man ihn. Wie früher im Chemieunterricht mit diesen Experimenten, in denen der Lehrer eine Rose oder Banane –«
»Was?« Abrupt
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