Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
zweiten Einbruchsnacht gesehen hatte: auf dem Mofa, im T-Shirt, mit Handschuhen, der Kiste mit den flatternden Planen hintendrauf.
Die Vogelscheuche würde nicht mehr aus dem Knast kommen.
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32
S eine Knöchel treten weiß hervor. Fast so weiß wie die Stäbe, um die sich seine Finger krallen. Er hat die Fenster geöffnet und bringt das Gesicht zur Luft. Der Schnee kommt. Er riecht es.
Wenn er sich ganz arg anstrengt und die Augen zusammenkneift, kann er den Kreis erkennen. Hellblau. Aber ohne Wasser darin. Die Bäume drum herum haben keine Blätter. Tiliae. Linden. Familie Malvaceae. Sympodialer Wuchs. Zymöser Blütenstand. Zwittrige Blüten, radiärsymmetrisch, fünfständig. Er verliert nie auch nur ein Wort aus seinem riesigen Speicher. Selbst jetzt nicht, wo diese Moleküle in seinen Adern wüten wie Ameisen, denen man einen Stock in den Wohnhügel gerammt hat.
Ein heulender Laut dringt aus seinem Mund.
Ammoniumnitrat, Calciumnitrat, Ethyldinitramin, Hexogen, Montanwachs. Anteile von Hundert: 52, 6, 30, 10, 2. Er muss sie aufhalten! Amatol 41 hat eine höhere Sprengkraft als TNT . Es reißt Festungen ein.
Bruno ist eine Bombe.
Er starrt in die Freiheit. Um den Kreis stehen große Häuser. Links eine Kirche. Sie hat einen schwarzen Turm. Ganz schwarz. Schnell schlägt er die Augen nach rechts. Dort ist der hohe Zaun aus dunklem, dicht geflochtenem Metall. Er reicht bis an das Haus heran, in dem sie ihn heute Nacht eingeschlossen haben. Darüber ringelt sich Stacheldraht.
Der dritte Käfig.
Amatol 41.
Ein langgezogenes Winseln schwappt durch die Türritze herein. Sofort spannt er die Armmuskeln an, zieht sich nach oben, seine Füße laufen die Wand hoch. So hängt er wie ein Primat, geschützt vor dieser lauten, giftigen Flüssigkeit. Langsam biegt er den Kopf nach hinten, schielt zur Tür. Nichts. Nur das grüngraue Linoleum, das unter der Tür ins Zimmer hereinkriecht.
Heute früh ist er ganz still geblieben, als sie ihn wieder in ein Auto gesetzt haben. So viel ist er noch nie gefahren in seinem Leben. Ihm ist schwindelig geworden, weil alles so schnell ging, kaum hat er etwas gesehen, ist es schon wieder weg gewesen. Deswegen hat er einfach die Augen zugemacht. Ganz fest.
Er ist klug.
So hat er auch die Wut bändigen können und den scharfen Sprengstoff. Und sie haben ihn in Ruhe gelassen. Sie haben keinen Gesundmacher geholt, der ihn sticht. Er will keinen neuen Stich. Ihr Schmerz frisst sich stundenlang durch jede Faser seines Körpers. Wenn er still bleibt und vortäuscht, ein Komisch zu sein, dann lassen sie ihn alleine. Das hat er schnell gelernt.
Bruno-Teufel.
Die Stäbe vor seinem Gesicht versinken mit dem Kopf in der Wand. Das gefällt ihm. Er versteckt seinen Kopf auch gern.
Seine Beine laufen an der Wand hinab, zurück auf das Linoleum. Seine Finger betasten einen Querstab direkt über dem Sims. Die Räder drehen sich schwer in seinem Kopf. Warum kann er nicht einfach hindurch?
Warum?
Ammonium- und Calciumnitrat schwappen in seine Hohlvenen. Er darf nicht explodieren!
Ein Wimmern hallt ihm von den Wänden entgegen, quetscht seine Schädeldecke zusammen.
Nein! Still!
Er presst die Hände auf die Ohren, aber es hört nicht auf. Das ist sein eigenes Wimmern! Es ist in seinem Kopf!
Still! Benimm dich wie ein Komisch.
Sonst piksen sie dich. Denk nach!
Er sieht hinaus. Die Räder rucken.
Draußen gehen zwei Komischs. Ihre Arme sind ineinandergehakt. Er umfasst die Stäbe. Er versteht nicht, wie Menschen sich anfassen können. Bei ihm darf das niemand. Nur
sie
hat ihn einmal berühren dürfen. Aber das ist lange her.
Er schließt ein Auge, mit dem anderen sieht er den beiden nach, wie sie hinter dem Kreis verschwinden. Der Mann macht dieselben kleinen Schritte wie der Vater. Joseph. Die Krummholz-Kiefer. Sie macht nur kleine Wörterhaufen. Er denkt an den letzten.
»Bist mir fremd«, sagt die Kiefer zu ihm. »Trotzdem mein Sohn.«
Der Vater sitzt im Zimmer von Liss, das darf er nicht. Aber Bruno ist dem Schluchzen gefolgt. Da hat er ihn entdeckt.
»Brauchtest viel Zuwendung. Kranker Junge. Hab nie einen Draht zu dir gefunden«, kriecht es zäh aus seinem Mund wie Schlingpflanzen.
Bruno presst sich an die Wand. Neben ihm sitzt der Teddybär von Liss.
»Hast immer alle für dich gehabt. Jeder hat sich gekümmert.«
Die Arme der Schlingpflanze bohren sich durch seine Haut, kriechen in ihn und legen sich kalt um seine Knochen. Er windet sich vor Schmerzen.
»Jemand musste sich
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