Schweig still, mein Kind / Kriminalroman

hätte Rücksicht nehmen müssen. Sie schien gleichgültig gegenüber der Tochter, schroff gegenüber dem einen und übertrieben fixiert auf den anderen Sohn zu sein. In der Summe kühl und distanziert. Lieblos. Seelenlos. Genauso wie es die Küche widerspiegelte. Und Joseph, der klammerte sich verzweifelt an seine Erinnerungen, mauerte sich vor der Realität ein.
    Ehrlinspiel dachte oft und mit Dankbarkeit an seine eigenen Eltern. Sie hatten nie viel besessen, aber ihren vier Sprösslingen eine vertrauensvolle Kindheit geschenkt. Bis heute waren sie eine stabile Familie geblieben. Das ist mein Glück, dachte er. Ein Hafen, in dem ich in allen Stürmen des Lebens Schutz finden werde.
    Wo hatte Elisabeth Schutz gesucht?
    Ehrlinspiel blickte in Richtung des vorderen Küchenfensters. Hermanns und Friedas Köpfe bewegten sich im Gespräch. Beide achteten nicht auf das, was draußen geschah, und selbst wenn sie aus dem Fenster schauten, würden sie von der beleuchteten Küche aus nicht erkennen können, was im Dunkeln vor sich ging. Im Obergeschoss brannte kein Licht mehr, und Bruno war mit dem Mofa unterwegs. Die Umgebung lag schwarz und regenglänzend wie ein umgestülpter Taucheranzug.
    Gartenschere.
Bruno war offiziell nicht verdächtig. Auch nicht als Beteiligter. Andererseits … Der grausame Mord, das Gewächshaus …
    Er tippte auf die Kurzwahltaste zwei auf seinem Handy. Die Mailbox der Oberstaatsanwältin sprang an.
    Vertraue deiner inneren Rechtsgüterabwägung, hörte er seinen Bärenführer sagen. So nannte die Polizei erfahrene Mentoren, die mit der Lebenswirklichkeit tief vertraut waren und die Jüngeren, vollgepumpt mit Theorie, in die harte Praxis einführten. Wie für viele war auch für Ehrlinspiel sein Bärenführer fast wie ein Vater geworden, prägend für seine Arbeit und sein Selbstvertrauen. Geh vorwärts, wenn du überzeugt bist, würde der Bärenführer jetzt sagen. Aufklärung ja, doch nicht um jeden Preis, hielt das monotone Näseln von Ehrlinspiels ehemaligem Strafrechtdozenten dagegen.
    Der Kriminalhauptkommissar trat von einem Bein auf das andere. Er war sich fast sicher, die fragliche Schere im Gewächshaus zu finden. Zum Glück ließ das deutsche Rechtssystem auch ein etwas unkonventionelles Vorgehen zu, und die dabei gefundenen Beweise wurden nicht zwingend aus der Verwertung ausgeschlossen. Fremdwirkung, Rechtskreistheorie, Paragraf 102 Strafprozessordnung …
    Ehrlinspiel schlich auf die Rückseite des Sommerhofs.
    Der Regen prasselte auf das Dach des Gewächshauses und übertönte sein vorsichtiges Rütteln am Türgriff. Verschlossen. Ich bin ein Lausbub, sagte er sich. Ich stelle etwas an. Ich habe keinen Durchsuchungsbeschluss.
    Auf der Längsseite schlug ein Klappfenster im Wind. Die Innenverriegelung war nicht vorgelegt. Wie hatte sein Bärenführer einmal gesagt? Du bist ein guter Bulle, Moritz. Dein Gespür wird dir sagen, was zu tun ist. Und denke immer daran: Die Früchte des verbotenen Baumes sind süß.
    Ehrlinspiel zog das Fenster nach oben. Modriger Geruch drang in die Nacht hinaus, durchmischt mit dem honigähnlichen Duft, der ihm sofort wieder das Bild von Bruno in der Küche vor Augen rief, den gesenkten Blick, die ausgestreckte Hand mit den Blumen. Er stemmte sich bis an die Fensterkante, schob ein Bein über den Rand und ließ sich innen geschickt fallen. Polizeisport konnte manchmal lästig sein, aber er hatte durchaus sein Gutes.
    Er klopfte seinen Mantel ab und tastete sich bis zum Plattenweg vor. Hoffentlich hatte er keine wertvollen Pflanzen zerstört. Er blinzelte zu der Stelle, an der er aufgekommen war. Sie schien ein bloßes Stück frisch umgegrabener Erde zu sein, links und rechts exakt abgegrenzt von anderen, bepflanzten Arealen. Ehrlinspiel atmete schwer. Das Klima erinnerte ihn an seinen Aufenthalt in Ägypten vor ein paar Jahren. Feucht und warm war es gewesen, Bewegung eine Qual und die Hotelgäste nervtötend. Nie wieder würde er sich zu einem All-inclusive-Sommerschnäppchen mitschleppen lassen.
    Neben dem leeren Beet stand eine Styroporkiste von der Sorte, wie Bruno sie auf dem Gepäckträger des Mofas transportiert hatte. Neugierig bückte Ehrlinspiel sich. Orchideen in Plastiktöpfen. Die einzigen Pflanzen, die er neben Rosen und Butterblumen ohne Bestimmungsbuch identifizieren konnte. Auf der Kiste prangte der Aufdruck einer Großgärtnerei, darunter der Schriftzug
Empfindliche Pflanzen
. Bruno wollte die Orchideen sicher hier einsetzen.
    Der