Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
auch Bruno konnte er nicht der Polizei und ihren Fragen aussetzen. Der Waldmensch würde nicht begreifen, was vor sich ging. Er hatte kein Verständnis für das, was nach der Vorstellung gesunder Menschen richtig war und was falsch. Die Fragen der Polizei würden ihn aus der Bahn werfen, seinen geregelten Tagesablauf und sein inneres vertrautes Terrain zerstören. Er musste seinen Bruder beschützen.
Beschützen.
Hermann selbst hatte innerhalb seiner Familie nie Solidarität erfahren. Außer von Elisabeth. Und jetzt hatte er sie endgültig verloren. Seine Schwester. Kameradin. Vertraute.
Jetzt galt es: stark bleiben. Sich nicht von Frieda unter Druck setzen lassen. Dem Schmerz keinen Raum gönnen.
Komme deinen Pflichten nach. Das wird von dir erwartet.
Er schrieb.
Liebe Angehörige, liebe Freunde, Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Dann starrte er auf das Blatt. Eine Träne ließ das F aufquellen. Was schrieb er denn da? Wurde er jetzt völlig verrückt? Er konnte sich doch nicht hinstellen und Beileidsworte an seine eigene Verwandtschaft richten, Worte, wie er sie für Fremde verwendet hätte.
Hermann ballte die Faust um den Stift, grub tiefe Striche in das Blatt.
Reiß dich zusammen! Die Leute haben dich gewählt. Du hast schon so viel erreicht. Lass Zwist und Argwohn nicht zu. Du bist Vorbild. Darfst niemanden enttäuschen.
Er zerknüllte das Papier. Doch was sollte er den Menschen sagen? Dass sie keine Angst haben mussten? Dass der Mörder schon gefunden werden würde? Dass sie sich bei der Rabenprozession nur besonders demütig zeigen mussten und dann alles in Ordnung käme?
Ein Band aus Stahl umschloss seine Brust. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und lehnte die Stirn gegen die gefalteten Hände. »Heilige Jungfrau, die du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.« Er bewegte lautlos die Lippen. »Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.« Seine Lippen bebten.
Hilf, Maria! Du musst mir helfen! Mir Kraft geben!
Gott, wenn ihn jemand so sähe! Er durfte keine Schwäche zeigen. Hermann stand auf und nahm sechs Tassen aus dem Hängeschrank.
Weitermachen.
Den Tisch für das Frühstück decken. Alles wird bald wieder ganz normal sein. Er legte die Teller auf. Renate würde sich über den gedeckten Tisch freuen. Ganz bestimmt.
Als er nach dem Besteck griff, nahm er am Rand seines Gesichtsfelds eine Bewegung im Garten wahr. Die Messer fielen mit metallischem Scheppern zu Boden. Hermann verharrte reglos. Bruno? Der Polizist hatte doch zu Frieda gesagt, dass sein Bruder mit dem Mofa unterwegs sei. Hermann starrte angestrengt in die Dunkelheit hinaus, seine eigene Gestalt reflektierte im Fenster. Er zog ein Taschentuch aus der Hose und wischte sich über die Stirn. Jetzt litt er schon unter Halluzinationen!
Er ließ sich auf den Boden sinken und presste die Fäuste auf die Augen. Weinte, wie er es als kleiner Junge getan hatte.
[home]
11
Samstag, 21. November
B leiche Sonne strich über die Grabsteine.
Ehrlinspiel öffnete das Zimmerfenster. Der Friedhof lag, geschützt von einer roten Steinmauer, wie ein kleiner Park um die Kirche und ihren kleinen Vorplatz, und der Samstagmorgen versprach trocken und freundlich zu bleiben. Nebenan knarrten Dielen, dann öffnete und schloss sich eine Tür, Schritte entfernten sich. Raubkatze. Ob die wohl friedlich geschlafen hatte im Zimmer einer Ermordeten, das sicher etwas Bedrückendes atmete? Hoffentlich steckte sie ihre Nase nicht in seine Arbeit.
Ehrlinspiel rasierte sich, duschte und überquerte die Straße zum Friedhof. Vielleicht entdeckte er dort ein Stück Dorfgeschichte, konnte sich ein Bild machen von den Familien. Nicht selten waren Friedhöfe mehr als verräterisch.
Mang, Rieder, Sommer, Lauinger, Ochs. Die Namen auf den Grabsteinen wiederholten sich und zeugten von einer Dorfgemeinschaft, die sich aus nur wenigen Sippen zusammensetzte. Typisch Land, wo Bindungen seit Urzeiten gewachsen waren. Hier lag keiner der Entwurzelten, kein Mensch der schnellen Veränderungen, wie man sie in der Stadt antraf. Kein Fremder. Hier ruhten die, deren Namen schon immer in Stein gemeißelt standen.
Auf der Nordseite der Kirche, im Schatten der Mauer und etwas abseits der anderen Gräber, blieb Ehrlinspiel stehen.
Hedwig Vogel
. 1959–2000.
Mehr verriet der schlichte Stein nicht. Zwei frische Sträuße lagen auf der Erde, ein großer und ein kleiner.
»Sie hat lange gekämpft.«
Ehrlinspiel drehte
Weitere Kostenlose Bücher