Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
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Sonntag, 22. November
J ohannes wurde bis zum Sonntagvormittag nicht gefunden. Und er tauchte auch nicht freiwillig auf.
Ehrlinspiel stand auf dem Vorplatz der Kirche, seine Augen fühlten sich an wie zwei aufgequollene Hefeteigbrötchen, und seine Glieder schmerzten. Erst jetzt, um zehn Uhr, war er aus dem Gelände zurückgekehrt, wo er die Arbeit der Hundestaffel eingeleitet und auf den Hubschrauber gewartet hatte. Evers flog mit dem Piloten gerade das Gelände ab, das sie wie ihre Westentasche kannte. Bislang ohne Erfolg. Die Hundeführer hatten die Suche bei Johannes’ Hof begonnen und waren mit den Tieren jetzt im westlichen Wald unterwegs. Gegen Mittag würde der Dreißig-Mann-Zug eintreffen, so dass sie dann mit voller Kraft arbeiten konnten.
Die nächtliche Suche der Bauern hatte außer nassen Füßen, Schlafmangel und einem Hauch Autorität nichts gebracht. Um jedes Gebäude, durch alle Gärten und Straßen waren sie gelaufen, Ehrlinspiel selbst hatte Brunos Gewächshaus kontrolliert. Gegen eins hatten sie wegen des Unwetters aufgeben müssen. Die fünf Stunden Schlaf, bis die Hundestaffel eingetroffen war, hatten Ehrlinspiel kaum Erholung verschafft.
Jetzt sah der Hauptkommissar zu, wie der Pfarrer jedem, der aus dem Gotteshaus kam, die Hand gab und zum Abschied freundlich nickte. Das Glockenläuten vermischte sich mit kläglichen Orgelklängen. Ein Tonband, vermutete er.
Willi kam, in die Hände hauchend, zu dem Kommissar. »Kalt.«
»Aber trocken.« Kleine Wolken bildeten sich vor Ehrlinspiels Mund.
»Er ist getürmt, nicht wahr?« Willi rieb sich die Hände.
Der kleine Platz füllte sich. Grüppchen standen zusammen, in dicken Mänteln, die Mützen in die Stirn gezogen. Hermann Sommer und sein Vater Joseph redeten mit einigen Männern, nachdem Frieda alleine die Straße in Richtung Sommerhof geeilt war. Ehrlinspiel winkte ihnen zu, und Hermann hob kurz die Hand. Joseph blickte ausdruckslos herüber.
»Das wird sich zeigen.« Ehrlinspiel sah Hanna Brock aus der Kirche kommen.
Sie sprach mit dem Pfarrer und kam dann zu den beiden Männern.
»Atheist, hm?« Sie trug eine knappe Lederjacke und hatte sich einen bunten Schal um den Hals geschlungen.
»Keineswegs. Aber Agnostiker. Und ausgetreten.« Ehrlinspiel besuchte Kirchen nur noch bei Hochzeiten und Beerdigungen. Oder – wie er sagte – aus kulturhistorischen Gründen.
»Interessante Predigt.« Sie wandte sich an Willi. »Das mit den Teufeln und Dämonen müssen Sie mir einmal genauer erklären.«
»Gern.« Strahlend strich der Wirt seinen Schnauzbart glatt.
»Die Sorte ist mir gestern auch schon begegnet.« Ehrlinspiel dachte an Bertha und das Grab von Sinas Mutter. Brock sollte bloß nicht glauben, dass sie ihn mit ihrem Wissen provozieren könnte.
»Wirklich? Wir könnten ja zusammen –«
»Verhaften Sie den Feigling endlich!« Eine mollige Frau mittleren Alters eilte auf Ehrlinspiel zu. »Ein Killer ist er, ein gemeiner Killer!«
Ein Glatzkopf baute sich neben der Frau auf. Über seinen Schädel zog sich eine breite Narbe, und sein Rücken war gebeugt. »Helma hat ganz recht! Wenn Sie sich nützlich machen wollen, dann …« Er fuhr sich mit dem Zeigefinger von links nach rechts über den Hals. »Wir brauchen hier keine Totschläger.«
»Die Todesstrafe«, Ehrlinspiel ahmte die Geste des Mannes nach, »ist abgeschafft.« Er lächelte verbindlich.
»Nicht für einen Schlächter«, stieß der Glatzkopf aus und zog die Frau mit sich fort. »Komm, Helma, komm.«
Willi sah ihnen nach. »Sie reden.«
Ehrlinspiel hatte längst bemerkt, dass einige Köpfe sich immer wieder zu ihnen umdrehten. »Ich kann’s ihnen nicht verdenken.«
»Die sind im Grunde froh, dass Sie hier sind und heute Nacht gemeinsame Sache mit uns vom Dorf gemacht haben. Bloß kann das keiner zugeben. Wie … wie ich.« Er hob die Schultern. »Wir haben doch alle Angst. Unter uns ist ein Mörder. Und wenn es Johannes ist …« Rasch hob er seinen Hut. »Ich muss rüber. Frühschoppen. Bis später.« Er ging durch das kleine Friedhofstor zur Straße.
»Bis dann«, sagten Ehrlinspiel und Brock wie aus einem Mund.
»Lassen Sie uns ein bisschen näher rangehen.« Hanna drängte Ehrlinspiel zu den Leuten. »Unauffällig.«
Unauffällig? Er schmunzelte amüsiert. Wenn es hier irgendetwas gab, was garantiert
nicht
unauffällig war, dann diese Wanderführer-Schreiberin und er, der nun schon zum zweiten Mal seine Leute durch das Dorf jagte
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