Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
Schuss abgeben, jedenfalls nicht solange sie im Wageninnern saß – was wäre, wenn die Kugel von den Wänden abprallte und sie oder Smokey traf?
Sie steckte die Pistole wieder ein. Ihr blieb nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass die Raubkatze verschwand.
Smokey beruhigte sich wieder, kroch ganz langsam über den Sitz auf Lena zu und legte ihr die Arme um die Schultern. Ein seltsames Quietschen war zu hören. Der Leopard rutschte rückwärts über die Windschutzscheibe auf die Motorhaube. Dort streckte er sich mit den Vorderpfoten am Glas hin, presste die Schnauze gegen die Scheibe, starrte sie an und wirkte ein wenig irritiert, weil Lena und Smokey so nahe und doch außerhalb seiner Reichweite waren.
Lena war versucht zu hupen, ließ es aber bleiben, weil sie nicht sicher war, ob es das Tier tatsächlich erschrecken oder aber nur verärgern würde. Am besten sie tat so, als ob der Leopard gar nicht da wäre, dann würde er sich hoffentlich irgendwann einer leichteren Beute zuwenden. Ihre Leinentasche lag immer noch auf dem Vordersitz, wo sie sie vor zwei, nein drei Tagen zurückgelassen hatte. Sie streckte die Hand nach ihr aus und hievte sie zu sich auf den Rücksitz.
Smokey schnüffelte am Stoff, versuchte, die Schnallen zu lösen und zerrte an den Riemen. Das Geräusch des Reißverschlusses ließ sie zurückschrecken. Lena wühlte in der Seitentasche nach ihrem Handy. Tot. Es war vier Tage lang eingeschaltet gewesen. Und ihr Ladegerät lag im Koffer im
VistaView
.
Ansonsten hatte sie lediglich ein paar Energieriegel dabeigehabt, die sie sich rasch in die Manteltasche stopfte, ehe Smokey sich darüber hermachen konnte, ihren Laptop und ein paar Bücher, die sie aus dem Stammesarchiv ausgeliehen hatte: eine gebundene Ausgabe von Joseph G. Hesters 1883 durchgeführtem Zensus der Östlichen Cherokee und Dr. Bearmeats Dissertation aus dem Jahr 1987, in dem es um deren Geschichte und das Abkommen mit den ehemaligen Sklaven ging.
Dr. Bearmeat war so erfreut darüber gewesen, dass sie sich für das Abkommen interessierte und seine Doktorarbeit möglicherweise für ihren Artikel im
Duke Law Review
verwenden wollte, dass er ihr angeboten hatte, die Bücher länger als die üblichen sieben Tage zu behalten. Schließlich, hatte er noch hinzugefügt, waren sie ohnehin seit Jahrzehnten von niemandem mehr ausgeliehen worden.
Lena hatte sich mit ihm mehrfach ausgiebig über die rechtlichen Auswirkungen des Abkommens unterhalten, besonders im Hinblick auf die neueren Urteile in Oklahoma. Er hatte mit dem Großformatkopierer des Archivs eine Kopie von dem Abkommen für sie angefertigt, die sie dann der von ihm als Übersetzerin empfohlenen Frau gegeben hatte.
Das Faszinierendste an der Sache war – da stimmte Dr. Bearmeat ihr zu –, dass niemand sich für das Dokument zu interessieren oder auch nur daran zu erinnern schien. Keiner der befreiten Sklaven hatte je auf dem Land gelebt, das ihnen seit Generationen zustand; die Hales waren somit die Letzte der schwarzen Familien gewesen, die auch nur in der Nähe von Qualla Boundary gelebt hatte, und auch sie waren von hier weggezogen, nachdem Eli ins Butner eingeliefert worden war.
»Es ist, als ob irgendjemand uns aus den Geschichtsbüchern tilgen möchte«, hatte sie zu Dr. Bearmeat gesagt, während er Tee gekocht hatte. Bei ihren Besuchen im Archiv war nie jemand anderes außer ihr dort aufgetaucht. Sie hatte das Gefühl, dass Dr. Bearmeat ein sehr einsamer Mensch war, darauf bedacht, sein Wissen weiterzugeben, bevor er starb, und es mitsamt der Fülle von Dokumenten, um die er sich äußerst sorgfältig kümmerte, in Vergessenheit geriet.
»Computer«, sagte er offensichtlich verärgert, während er übereifrig Milch in seinen Earl Grey rührte. »Schuld daran sind Computer. Wenn die Menschen etwas nicht in Sekundenbruchteilen bei Google finden, gehen sie davon aus, dass es nie existiert hat. Im Gegensatz zu Ihnen fehlt den meisten die Geduld für Originalquellen.« Er strahlte sie an, als sei sie seine Lieblingsschülerin.
»Und das Originaldokument ist verloren gegangen, sagten Sie?«
Er rutschte auf dem Stuhl hin und her und starrte in seinen Tee. »Ja. Als Tommy Shadwicks Haus niedergebrannt wurde.«
»Von meinem Vater.« In den letzten Wochen, nachdem Eli ihr befohlen hatte, seine Verurteilung nicht länger anzufechten, hatte sie sich damit abgefunden, dass ihr bisheriges Leben auf einer Lüge aufgebaut gewesen war. Sich Elis Schuld einzugestehen
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