Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
Magen revoltierte aus Angst, wenn er daran dachte, dass er sich Goose beinahe anvertraut hatte. Wegen der Tiere, wegen Lena, einfach allem.
Er schnappte sich seine Jacke und sein Schlüsselbund, rannte durch die Hintertür nach draußen, ehe ihn jemand bemerkte. Hier unter ausgelassen feiernden Reapern hielt er es nicht mehr aus. Nie könnte er die Wahrheit weiter vor ihnen verbergen. Aber wenn sie Bescheid wüssten, dann wäre er der Nächste, der auf einem Tisch im Leichenschauhaus liegen würde, so viel stand fest.
Onkel Jimmy bestand auf einem Abendessen in einem Speisesaal, der für die besonders vermögenden Gäste reserviert war. Als sie ihn betraten, Jessalyn bei ihm eingehakt, machte er sie auf verschiedene Berühmtheiten aufmerksam, denen er lächelnd zunickte oder winkte. Caitlyn hatte von keinem von diesen Menschen je gehört, aber Namen waren auch nicht gerade ihre Stärke.
»Wie geht’s Bernie?«, erkundigte sie sich nach ihrem Cousin, als sie Platz genommen hatten. Wenn sie schon in dieser Familienzusammenführung gefangen war, dann konnte sie ebenso gut mitspielen. Doch offenbar hatte sie genau das Falsche gefragt.
Jimmy starrte wütend auf sein Silbersteck und winkte den Kellner herbei, damit er eine angeschlagene Salatgabel auswechselte. »Bernie ist eben Bernie«, antwortete er dann seufzend. »Bei dem Jungen ist Hopfen und Malz verloren.«
Jimmys Tonfall glich exakt dem ihrer Mutter, wenn sie von Caitlyn sprach. Armer Bernie. Ihr Cousin war schon immer ein Träumer gewesen, eines dieser Kinder, die ständig die Nase in einem Buch vergruben oder viel zu nahe dran und wie hypnotisiert vor dem Fernseher saßen. Caitlyn bezweifelte, dass sie ihn je mehr als zwei zusammenhängende Sätze hatte sprechen hören.
Ihr Telefon klingelte, als gerade die Salate serviert wurden. »Entschuldigt.« Sie schaute aufs Display. Die Nummer sagte ihr nichts. Es gab jedoch nicht viele Menschen, die ihre private Handynummer hatten. »Da muss ich rangehen.«
»Caitlyn, das kann doch sicher warten«, sagte ihre Mutter. »Wir sitzen gerade beim Abendessen.«
»Die Arbeit.«
»Das ist ein Familienabend. Du hast deinen Onkel seit fünfzehn Jahren nicht gesehen.« Familie ging Jessalyn über alles. Der wenig familienfreundliche Beruf von Caitlyns Vater war ihr ein ewiger Dorn im Auge gewesen.
Sie selbst hatte schon vor Langem aufgegeben, den hohen Ansprüchen ihrer Mutter gerecht werden zu wollen. Vielleicht würde ihr ja eines Tages doch mal etwas gelingen, auf das ihre Mutter stolz wäre – heute aber offensichtlich nicht. Sie stand vom Tisch auf und nahm den Anruf entgegen.
»Caitlyn?«, fragte eine weibliche Stimme mit South-Carolina-Akzent. »Haben Sie Lena schon gefunden?«
Caitlyn ging all ihre Gedächtnisstützen durch, mit deren Hilfe sie sich Namen merkte. Sie wusste, dass sie die Stimme kennen sollte, kam aber einfach nicht darauf, zu wem sie gehörte. Also beantwortete sie die Frage, die ihr die Frau gestellt hatte, um mehr Zeit zu gewinnen. »Nein.«
»Ich habe es immer wieder auf ihrem Handy versucht, aber da werde ich jedes Mal direkt zur Mailbox weitergeleitet«, sagte die Frau hastig. »Aber dann kam mir die Idee, es über unsere Find-Me-App zu versuchen.«
Da machte es plötzlich klick. Die Mitbewohnerin. Caitlyn konnte sich zwar nicht mehr an den Namen erinnern, aber das spielte auch keine Rolle. »Find-Me-App?«
»Sie wissen schon. Die lädt man sich aufs Telefon, bevor man mit einer Freundin auf eine Party geht. So kann man sich wiederfinden, falls man getrennt wird – es sei denn, man hat jemanden aufgegabelt und will nicht gefunden werden, dann hängt man ein ›Nicht stören‹-Schild ans Telefon, das sieht der andere dann auch.«
Nein. Das sagte Caitlyn überhaupt nichts. Anscheinend hatte sich so einiges getan, seit sie aufs College gegangen war. Sie kam sich plötzlich alt vor. »Und, hat es geklappt?«
»Irgendwie schon. Bin nicht sicher. Es wird angezeigt, Lena sei in der Nähe von Evergreen in einer Bar namens
Pit Stop
.« Sie formulierte das wie eine Frage. »Ich habe den Ort gegoogelt, und es scheint so eine Rockerkneipe zu sein. Ganz sicher kein Laden, den Lena betreten würde. Also hat vielleicht jemand ihr Handy gestohlen? Na, jedenfalls dachte ich, es könnte helfen.«
»Danke. Das tut es.« Caitlyn erinnerte sich dunkel an eine Blockhütte oben am Fluss mit jeder Menge Motorrädern davor. »War auch zu sehen, wann Lena dorthin gegangen ist?« Das wäre wahrscheinlich
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